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Adressat unbekannt

 Autor: Kressmann Taylor  Verlag: Atlantik / Hoffmann & Campe  Seiten: 95  Übersetzer/in: Dorothee Böhm
 Beschreibung:

Die Autorin Kressmann Taylor (ihren Vornamen Katherine hat sie bei diesem Buch nicht angegeben) hat diesen fiktiven, allerdings von einigen tatsächlich existierenden Briefen inspirierten Briefwechsel zwischen zwei Freunden 1938 das erste Mal im New Yorker Story Magazine veröffentlicht. Kurz darauf erschien ein Nachdruck in Reader’s Digest, mit grossem Erfolg. Aufgrund der zunehmenden Rechtsradikalität und Fremdenfeindlichkeit brachte Story es 1992 erneut, und 1995 erschien es bei Simon & Schuster als Buch, bald darauf auch in Europa, und wurde hoch gelobt.

Martin Schulse und Max Eisenstein führen in San Francisco eine florierende Galerie, zum Kundenstamm gehören viele wohlhabende Juden. Martin Schulse entschliesst sich 1932, nach Deutschland zurückzukehren, als der älteste seiner Söhne eingeschult werden soll. Die beiden sehr engen Freunde schreiben sich. Der Zurückgebliebene – ein Jude – beneidet den Heimkehrer um die «geistige Freiheit» und «die freundschaftliche Wärme» in Deutschland, es sei ja jetzt auch Schluss mit der preussischen Arroganz und dem Militarismus. «Du findest ein demokratisches Deutschland vor …», und das hat man damals offensichtlich geglaubt. Doch schon im nächsten Brief erkundigt sich Max, der die Galerie alleine weiterführt, wer denn dieser Adolf Hitler sei. Martin äussert zunächst Zweifel, ob dieser Mann vielleicht verrückt sei, später schreibt er, er sei «gut für Deutschland» und die antijüdische Hetze gehe vorüber. Er hat bereits eine Anstellung in der neuen Regierung. Von Brief zu Brief wird die Freundschaft zwischen den beiden Männern brüchiger. Max will von Martin wissen, ob das, was er in Presseberichten über Deutschland liest wahr ist, Martin wird immer kühler im Ton und bittet Max schliesslich, ihm nicht mehr an seine Privatadresse, sondern in die Bank zu schreiben. Auch klingt bereits der antisemitische Jargon durch, dass etwa die jüdische Rasse ein Schandfleck für jede Nation sei. Die feindliche Stimmung spitzt sich zu, Martin wird zum überzeugten Nationalsozialisten und versteigt sich sogar dazu, seinem ehemals besten Freund zu schreiben, er sei nicht sein Freund gewesen, weil er Jude sei, sondern obwohl. Und er künde ihm die Freundschaft jetzt auf. Doch Max wendet sich ein letztes Mal an Martin und bittet ihn um Hilfe für seine Schwester Griselle, die einst Martins Geliebte war.

Das Ganze geht nicht gut aus. Martin verweigert nicht nur die Hilfe, sondern ist am schrecklichen Schicksal Griselles mitschuldig. Doch dann schlägt Max zurück, subtil und raffiniert, aus dem fernen Amerika, ohne dass er auch nur ein Quäntchen Gewalt anwendet. Als das sich anbahnende Ende dann tatsächlich eintrifft, ist man sowohl von der Offensichtlichkeit also auch von der Gerissenheit dieser gewaltlosen Rache überwältigt. Und ja, man atmet erleichtert auf.

Ein meisterhaftes Drama präsentiert uns die Autorin hier, irritierend kurz, jedes Wort sitzt, keines ist zu viel. Schon nach rund dreissig Seiten sind wir von der sich rasend schnell entwickelnden Dramaturgie gefesselt, sehen der Verwandlung Martins fassungslos zu. In ihrer Geschichte bringt Kressmann Taylor aber auch die Stereotype über gut und böse ins Wanken; nicht jeder Jude liess sich alles bieten, und nicht jeder Nazi war ein Unmensch, viele waren einfach feige, opportune Mitläufer. Dieses Büchlein ist ein Meisterwerk – in seiner Machart, in seiner Aussage, in seiner Sprache. Es müsste eigentlich Schullektüre sein.

 


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