Wenn ich ein Buch empfehle, werde ich meistens als Erstes gefragt: «Wovon handelt es?» Das ist verständlich, aber manchmal schade. Denn es gibt Bücher, bei denen ist das «wie» viel wichtiger ist als das «was». Dies ist ein solches Buch, obwohl sich auch das «was» durchaus sehen lassen kann:
Alice ist 32 und lebt mit ihrem Mann Howard und den zwei Töchtern auf einer Milchfarm in einem kleinen Städtchen in den USA. Howard hat sich mit der Farm einen Kindheitstraum erfüllt, das Geld dafür mussten sie sich von Howards Mutter borgen. Haus und Hof sind zwar intakt, aber schon etwas heruntergekommen. Dennoch mögen die beiden ihr Leben – Howard mit seinen Tieren und auf den Feldern, und Alice als Mutter, als Bauernfrau und einmal die Woche als Schulkrankenschwester. Die einzigen Freunde sind das Nachbarsehepaar Theresa und Dan. Die beiden Frauen passen gegenseitig auf ihre Kinder auf und sind eng befreundet. Doch eines Tages wird Alice ihre Zerstreutheit zum Verhängnis: Theresas zweijährige Tochter Lilly ertrinkt im Teich auf der Farm, während sie unter Alices Aufsicht steht. Alice fällt in ein tiefes Loch. Doch damit nicht genug: Kurz darauf wird sie verhaftet. Die verfeindete Mutter eines der schwierigsten Schulkinder, die Alice betreuen muss, schuldigt sie wegen Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauchs an. Und so befindet sich Alice plötzlich von der Umwelt abgeschnitten in einer Zwangsgemeinschaft mit keineswegs harmlosen kriminellen Frauen, und Howard muss in einer Umgebung, die ihn plötzlich aus fest geschlossenen Reihen anfeindet und ihm jede Unterstützung versagt, mit der Kinderbetreuung, dem Haushalt, dem Betreiben der Farm und nicht zuletzt mit seinem Unverständnis, wie seine Frau in diese Situation geraten konnte, klar kommen. Bis zur Verhandlung werden mehrere Monate vergehen, die Kaution für Alice würde hunderttausend Dollar betragen.
Doch jetzt zum «wie»: Trotz dieser dramatischen Handlung kommt das Buch ruhig und fast bedächtig daher. Erzählt wird aus der Sicht von Alice, und während ihrer Inhaftierung aus jener von Howard. Dieser Perspektivenwechsel verleiht der Geschichte eine besondere Energie und einen emotional bereichernden Dreh. Die Autorin erzählt unprätentiös und sehr differenziert vom Schmerz und den wackeligen Versuchen der Figuren, mit der Situation umzugehen, wobei diese zweitweise beinahe in eine Nebenrolle gedrängt wird. Denn eigentlich geht es in diesem Buch nicht darum, was passiert, sondern was die Ereignisse mit den Figuren machen. Figuren, die ganz normale Menschen sind, keine Helden und die auch nicht zu solchen mutieren. Es gibt keine grossen Wandlungen, keine umwälzenden Durchbrüche und Gott sei Dank auch keine kitschigen Versöhnungsszenen. Die Spannung erwächst aus den ganz einfachen, ganz menschlichen Zwischentönen und Erfahrungen.
Doch obwohl es in dieser Geschichte vor allem Verlierer und Verletzte gibt, ist es kein depressives oder gar anklagendes Buch. Es hinterlässt trotz all der Dramatik ein Gefühl der Menschlichkeit. Dass sich die Beziehungen der Figuren zueinander verändern, liegt auf der Hand. Doch vor allem erlangen sie ein grösseres Verständnis über sich selbst. Und das ist, auch wegen der feinen und unaufdringlichen Sprache, auf eine ganz spezielle Art tröstlich und versöhnend.
PS: Das Buch ist auf englisch noch erhältlich («A Map of the World»), auf deutsch ist es nur noch antiquarisch zu finden, z.B. auf www.zvab.com.