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Das grosse Los

 Autor: Meike Winnemuth  Verlag: Penguin Verlag  Seiten: 329
 Beschreibung:

«Ich habe gerade 500 000 Euro bei Wer wird Millionär? gewonnen.» So beginnt das Buch der Journalistin und Autorin Meike Winnemuth. Doch erst als die Assistentin hinter der Bühne sie bittet, ihre Kontonummer anzugeben, glaubt sie es. Wow. Doch dann: «Wenn einem so etwas passiert, ist es erst mal gar nicht das grosse Glücksgefühl, wie man immer denkt, sondern eine einzige Überforderung.» (S. 5) So überfordert ist sie, dass sie ihre beste Freundin fragt: «Was mache ich denn jetzt bloss? … Was will das Geld von mir?» Und die Freundin sagt, typisch beste Freundin: «Wir gehen jetzt erst mal Spaghetti essen. Der Rest ergibt sich.» (S. 6)

Doch eigentlich weiss die Gewinnerin bereits, was «das Geld von ihr will»: eine Weltreise. Aber nicht irgendeine. Meike Winnemuth will zwölf Städte besuchen, die sie noch nicht oder nur flüchtig kennt.  Einen Monat in jeder Stadt, zwölf Neuanfänge. Reiseführer ist dieses Buch allerdings keiner, eher ein persönliches Reisetagebuch. Die Städte, ihre Erlebnisse, ihre Eindrücke und Gefühle beschreibt die Autorin in Briefen – aus jeder Stadt einen – an Freunde, Familie, wichtige Menschen. Und einen sogar an sich selbst, an ihr jüngeres Ich. Am Schluss jedes Kapitels gibt es eine Auflistung von zehn Dingen, die sie in der jeweiligen Stadt gelernt hat.

Meike Winnemuth ist Journalistin, schreibt witzig-tiefgründige Kolumnen, macht Reportagen, die nicht selten auf Selbstversuchen beruhen – zum Beispiel trug sie einmal ein Jahr lang dasselbe Kleid. Solche Menschen interessieren mich, weil sie sich selbst nicht so ernst nehmen, die gesellschaftlichen Grenzen ausloten und zuweilen überschreiten. Einfach aus Neugier. Wenn ein solcher Mensch dann auch noch schreiben kann, kann ich wiederum kaum aufhören zu lesen.

Alles mindestens einmal ausprobieren
Die Reise startete in Sydney, einer Stadt, die «es einem leicht macht, sich in sie zu verlieben». Zum Beispiel, weil da die Feiertage, die auf einen arbeitsfreien Tag fallen, einfach nachgeholt werden. Diese Stadt, so Winnemuth, erleichtere einem «den Einstieg wie ein Schuhlöffel». In jeder Stadt probiert sie einfach alles aus, wonach ihr gerade ist. Zum Beispiel mit Hunderten unbekannter Menschen Ukule spielen oder bei einem der Harbour Bridge Climbs mitzumachen. In Shanghai isst sie allerlei frittierte Insekten, in Buenos Aires erkennt sie, dass Tango definitiv nichts für sie ist (vielleicht auch, weil ihr der Tangolehrer gerade mal bis zur Schulter gereicht hat …) und lernt, ihr Alter zu lieben: «Im Spanischen gibt man sein Alter mit dem Verb «tener» an – also haben. Tengo cincuenta años. Nicht: Ich bin 50, sondern: Ich besitze diese 50 Jahre. Sie gehören mir.» (S. 48)

Mit ihrem Frohsinn knüpft sie mit Leichtigkeit Kontakte, lernt eine Menge interessante Leute kennen, von denen einige zu Freunden werden. Während der Reise schreibt sie einen Blog und bietet dort den Lesern an, in der jeweiligen Stadt Dinge für sie zu erledigen. So landet sie zum Beispiel in Shanghai – oder eben ziemlich ausserhalb der Stadt – am falschen Ort, der Fahrer ist weg, keine Menschenseele in Sicht, sie hat keine Ahnung mehr, wo sie sich befindet. Aber anstatt Angst zu haben oder in Panik zu geraten, überfällt sie plötzlich ein grosses Glücksgefühl – die total Freiheit, aber auch das Vertrauen, dass schon irgendwann etwas geschehen wird. Und das tut es auch, sie muss nicht mal lange warten.

Das Glück des Reisens – der Zufall
All dies erzählt sie nicht nur mitreissend, witzig und unterhaltsam, sondern auch absolut bezaubernd, lehrreich und mit Tiefgang. Ihre locker-lustigen Schachtelsätze sind ein mindestens so grosser Genuss wie die Leckereien, von denen sie berichtet. Diese Reise ist aber auch eine Reise in ihr Inneres. Sehr persönlich reflektiert die Autorin darüber, wie es ihr dabei geht und was sie bewegt, was jede Stadt mit ihr macht – Mumbai, San Francisco, Adis Abeba, um nur ein paar zu nennen. Sie geht zwar an jede Stadt gleich heran, mit einer grossen Neugier, einer Lust am Ausprobieren und der Erkundung hauptsächlich zu Fuss, aber zwischen den Auswirkungen liegen Welten, um mal diesen Vergleich zu bemühen. Immer wieder scheint sie fast mühelos ihre Komfortzone zu verlassen, lässt sich von ihrem Hunger nach Neuem, Unbekannten leiten und findet so auch immer wieder zur Ruhe. «Das Glück des Reisens ist der Zufall. Nein, mehr als der Zufall: das Gefühl, die Welt meint dich. Sie blinzelt dir zu, sie schickt dir kleine Nachrichten per Spickzettel, die nur du verstehst. … Wenn ich das Gefühl beschreiben müsste, würde ich sagen: Weltgeborgenheit.» (S. 43)

Das grosse Los macht zwar Lust zu reisen, ist aber an und für sich schon eine Reise. Eine vergnügliche, beeindruckende und zuweilen auch berührende: «Du könntest einiges besser und eine Menge schlechter machen, aber Du kannst nichts falsch machen. Gar nichts.» (S. 190 – Brief aus Kopenhagen an ihr jüngeres Ich)

Ein dreizehnter Neuanfang kommt dann noch dazu, denn nach einer solchen Reise nachhause zurückzukehren, ist auch nicht ganz ohne. Sympathisch, dass die Autorin das nicht ausklammert. Ebenfalls sympathisch, dass sie einen der Briefe (den aus Adis Abeba) an jenen jungen Mann schreibt, der ihr bei der 500’000-Euro-Frage die richtige Antwort geliefert hat. Für mich war dieses Buch ein absoluter Genuss, ich ziehe meinen Hut vor der Autorin. Für ihren Mut, ihre Offenheit, ihren Humor und ihre Schreibe. Dieses Buch werde ich bestimmt mehr als einmal verschenken.

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