Auf englisch heisst dieses Buch «Wild» – für mich ein passenderer Titel als der deutsche, denn wild ist nicht nur die Natur, durch die Cheryl Strayed gewandert ist, sondern auch ihr Innenleben und ihre Vergangenheit. Es ist die wahre Geschichte einer über tausend Meilen langen, dreimonatigen Wanderung, gegen die der Jakobsweg mit seinen Unterkünften und Restaurants ein bisschen wie für Anfänger wirkt. Auf dem Pacific Crest Trail, dem PCT, gibt es nur alle paar Tage Campingplätze, das Zelt und die Verpflegung schleppt man selber, und manchmal begegnet man tagelang keinem Menschen, dafür aber Bären, Berglöwen oder Klapperschlangen, brutaler Hitze und eisiger Kälte. Ich wäre schon in der ersten Nacht allein in der Wildnis vor Angst gestorben …
Mit 26 Jahren verliert Cheryl Strayed innerhalb weniger Wochen ihre Mutter, zu der sie ein sehr enges Verhältnis hatte. Das wirft sie komplett aus der Bahn, sie schmeisst ihr Studium hin und betäubt sich mit Sex und Drogen, um der Leere in sich zu entkommen. Auch ihre Ehe geht in die Brüche, sie ist an einem Tiefpunkt ihres Lebens angelangt. Eines Tages springt ihr eine Broschüre über den Pacific Crest Trail in die Augen, und wild wie sie ist, beschliesst sie, einen Teil dieses über viertausend Kilometer langen Weges zu gehen; durch die Wüsten Kaliforniens, über die eisigen Höhen der Sierra Nevada, durch die Wälder Oregons bis zur «Brücke der Götter» im Bundesstaat Washington – 1600 Kilometer über sämtliche Gipfel entlang der Pazifikküste Nordamerikas. Alleine. Zwar befolgt sie die Anleitungen zur Vorbereitung des Trails, schickt sich Pakete mit Nahrungsnachschub und etwas Geld an die entsprechenden Posten auf dem Weg, doch sie hat kaum Erfahrung im Wandern, schon gar nicht auf langen Strecken, und sie trainiert auch nicht, bevor sie losmarschiert. Viele Anfängerfehler und Fehleinschätzungen lassen sie anfangs mehrmals beinahe aufgeben. Ihr Rucksack ist viel zu schwer – sie nennt ihn «Monster» -, ihre Wanderschuhe sind eine Nummer zu klein, einmal kommt sie der Dehydration und viele Male der Erschöpfung gefährlich nahe. Aber noch viel schwerer als an ihrem Rucksack trägt sie an ihrer Vergangenheit. In Rückblenden erfährt man viel über ihre Kindheit und die wilde Jugend, über die Familienverhältnisse und den Zerfall des familiären Zusammenhaltes, als die Mutter krank wird und stirbt. Diese Passagen sind mitunter etwas lang geraten, kommen aber schonungslos und ehrlich daher.
Gekonnt, berührend und ohne Beschönigungen erzählt Cheryl Strayed von blutigen Blasen, dem Verlust von Zehennägeln, von Hitze und Kälte, von Freundschaften und vom Verlorensein, von Torturen, Herausforderungen, Gefahren und Höhenflügen. Sie führt den Leser durch die äussere Landschaft genauso wie durch die innere, durch äussere Schmerzen genauso wie durch ihre inneren. Schlussendlich begegnet sie durch das Überwinden der Herausforderungen ihren eigenen Stärken und kann auch den Verlust ihrer Mutter verarbeiten. In den drei Monaten stellt sie sich den Fragen des Lebens, blickt auf ihre bisherige Existenz zurück, ohne sie zu beschönigen. Und als sie ihr Ziel schliesslich erreicht, hat sie zu sich selbst gefunden und beginnt ein neues Leben.
Mich hat das Buch sehr berührt. Einerseits ist es eine wahre Geschichte mit gutem Ausgang – ganz mein Geschmack – andrerseits ist es sehr ehrlich und packend geschrieben. Vor allem aber war ich vom Mut dieser Frau vollkommen beeindruckt – sich als Frau alleine auf eine dreimonatige Reise durch die Wildnis zu machen – das braucht schon eine Unmenge an Mut. Oder an Verzweiflung.
Ich habe das Buch auf englisch gelesen – die deutsche Übersetzung kann ich nicht beurteilen.