Mit Träumen ist das so eine Sache: Wenn man sie nicht verwirklicht (oder es zumindest versucht), wird man sie ein Leben lang nicht mehr los. Und wenn man ihnen folgt, klatscht einem die Realität zuweilen ins Gesicht wie ein kalter, nasser Waschlappen. Was also tun? Sie weiterhin mit sich herumtragen wie einen kleinen, spitzen Stein im Schuh oder ihnen ins Gesicht schauen und dabei riskieren, sich schlussendlich von ihnen verabschieden zu müssen? Die Wolfsforscherin Elli H. Radinger entschied sich für die zweite Variante. Ihr Traum war das Leben in einer Blockhütte, mitten in der Wildnis. Natur pur, wilde Tiere, keine Zivilisation.
Auf einer Wolfskonferenz lernt sie Greg kennen, einen „Wildnismann“, der ihren Traum vom einsamen Dasein bereits lebt. Die beiden verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Drei Wochen später bucht Elli für den 24. Dezember einen sündhaft teuren Flug, um ihn zu besuchen. Es ist der Beginn eines wahren Abenteuers; unwirtliche, unbarmherzige Natur, eine Blockhütte ohne Strom und fliessend Wasser, die längst nicht so romantisch (und ordentlich) eingerichtet ist wie in Ellis Traum, und schliesslich die Beziehung zu Greg. Schon bei ihrer Ankunft wird Elli vor harte Tatsachen gestellt und muss erkennen, dass in der Wildnis nur die Starken überleben – eine Weltanschauung, die ihr Greg nur allzu gerne am eigenen Leib demonstriert. Doch Elli ist hart im Nehmen, und in den nächsten Monaten erlebt sie auch viele glückstrunkene Momente, sowohl in der Natur als auch mit ihrem Liebhaber. Diese sind es, die sie die andere Seite der Medaille zunächst akzeptieren lassen; die Härte der Natur ebenso wie Gregs absolute Weigerung, sich in ihrer Beziehung auch nur einen Schritt auf sie zuzubewegen.
Hin- und hergerissen zwischen höchst beglückenden Erlebnissen sowohl in der Natur als auch in Gregs grossem Doppelbett und der Entdeckung, dass der Traum immer mehr Risse bekommt, versucht Elli ihren Platz zu finden. Doch die Risse werden tiefer, der Traum zerbrechlicher, der Traummann immer manipulativer. Elli beginnt sich von ihm abzugrenzen, leidet unter der Abgeschiedenheit und sehnt sich nach einem schlappen Fernsehabend, nach ein, zwei Stunden in einem Café oder ganz einfach nach einem warmen Bad – Dinge, die Greg nur abschätzig als „Zivilisationskram“ abtut. Immer öfter gibt es Streit, immer mehr verlangt Greg, dass Elli sich mit Haut und Haar seiner Lebensweise und seinem Sportfanatismus verschreibt, ja er will ihr sogar das Schreiben verbieten. Plötzlich fühlt sich Elli in ihrem Wildnistraum mehr gefangen als glücklich, und als Greg eines Tages die Beherrschung verliert und sie tätlich angreift, wacht sie endlich auf. Sie flüchtet, muss sich aber im letzten Moment Greg noch einmal stellen.
„Minnesota Winter“ ist die packende Geschichte einer mutigen, taffen Frau, deren Erfahrung all ihre Erwartungen und Befürchtungen übertroffen hat. Ihr Traum hat sie dazu gebracht, über ihre emotionalen und körperlichen Grenzen hinauszugehen. Als Leser fragt man sich die ganze Zeit: Wann wäre ich ausgestiegen? Aber haben wir nicht alle auch schon einmal einen viel zu hohen Preis für einen Traum bezahlt?
Das Schöne daran: Im Epilog heisst es: „Heute lebe ich einen Grossteil des Jahres im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark und erforsche wildlebende Wölfe. Dort in Montana ist eine kleine Blockhütte mein Zuhause. Sie ähnelt in vielem Gregs Cabin in Minnesota, nur hat sie trotz ihrer Abgeschiedenheit deutlich mehr Komfort.“
Manchmal ist es eben einfach nur zu früh für einen Traum. Wenn man es schafft, ihn erst mal beiseite zu legen kann es sein, dass er einen dann doch noch findet. Zur rechten Zeit, und keinen Tag früher.