Wäre dieses Buch ein Roman, ich hätte es aus der Hand gelegt, weil ich es als gottlos übertrieben abgetan hätte. Aber es ist kein Roman, es ist wahr. True story. Und die geht so:
Jeannettes Walls, erfolgreiche Journalistin mit Wohnsitz an einer der besten Adressen in New York, sieht eines Tages auf dem Weg zu einer Party aus dem Taxi heraus eine Obdachlose in einem Mülleimer wühlen. Es ist ihre Mutter. Jeannette Walls sinkt in den Sitz. Sie will nicht, dass ihre Mutter sie erkennt. „Ich hatte schreckliche Angst davor, dass die Leute etwas über meine Eltern herausfinden würden, darüber, dass ich als Kind in Pappkartons geschlafen und tagelang gehungert hatte. Deshalb erzählte ich niemandem von meiner Vergangenheit – bis jetzt.“
Doch dieses Erlebnis ist ein Wendepunkt. Sie entschliesst sich, ihre Geschichte zu erzählen. Und so erfahren wir in „Schloss aus Glas“ von einer Kindheit in äusserster Armut mit Eltern, die ständig am Existenzminimum leben und alles tun, um für ihre Kinder dieses Leben als grosses Abenteuer darzustellen. Was auch lange Zeit funktioniert.
Jeannettes Walls’ Eltern halten nichts von Regeln und Konventionen. Oft verlassen sie Hals über Kopf – meist mitten in der Nacht – ihren momentanen Wohnort, auf der Flucht vor dem FBI, wie der Vater erzählt. In Wahrheit fliehen sie vor Gläubigern und dem Jugendamt. Die Mutter träumt von einer Karriere als Kunstmalerin und Schriftstellerin und arbeitet nur im äussersten Notfall in ihrem Beruf als Lehrerin, und auch das mehr schlecht als recht. Der Vater nimmt immer mal wieder Gelegenheitsjobs an, arbeitet aber eigentlich an einer Goldsuchmaschine, die die Familie endlich reich machen soll. Seinen Kindern verspricht er, ihnen ein Schloss aus Glas zu bauen. Diese wachsen grösstenteil unbeaufsichtigt auf, und die Eltern schaffen es immer wieder, ihr Leben als aufregendes und spannendes Abenteuer darzustellen. Sie weigern sich aus ideologischen Gründen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Stattdessen hausen sie in ungeheizten Bruchbuden mit abenteuerlichen sanitären Verhältnissen. Oft ist der Kühlschrank tagelang leer, und die Kinder sammeln Pfandflaschen, essen Katzenfutter oder durchwühlen die Abfallkörbe in den Schulen. Die Grundlage der Erziehung in dieser Familie lautet: Wer es in der Jugend schwer hat, ist später besser fürs Leben gerüstet. Dennoch fordern die Eltern den Intellekt der Kinder heraus, und in der Familie wird viel gelesen. Überhaupt scheint in diesen Jahren der Zusammenhalt in der Familie sehr stark zu sein, obwohl man es als Leser oft nicht glauben kann, wie unverantwortlich die Eltern handeln. Die Autorin vergöttert ihren Vater und glaubt ihm lange Zeit, dass er immer alles im Griff hat. Doch als Jeannettes ältere Schwester in die Pubertät kommt und unangenehme Fragen stellt, als sie in einem Schulsommercamp erlebt, dass sie als „ganz normales Mädchen“ wahrgenommen werden kann, entsteht ein Plan. Die Kinder nehmen kleine Aufträge an – Babysitten, Nachhilfestunden, Gartenarbeiten – und sammeln gemeinsam Geld, damit eines nach dem anderen nach dem Schulabschluss nach New York gehen und ein eigenes Leben aufbauen kann. Derweil wird der Vater immer mehr zum Trinker, und seine Tricks, zu Geld zu kommen, werden immer gerissener. Einmal nimmt er seine halbwüchsige Tochter sogar in eine Bar mit, um den Männern den Kopf derart zu verdrehen, dass sie zu viel trinken und er sie beim Billard schlagen kann. Dass seine Tochter dabei beinahe genötigt wird, quittiert er mit „Ich wusste ja, dass du dich wehren kannst.“ In der Liebe zum Vater entstehen erste Risse. Und als er schliesslich ihre Ersparnisse entdeckt und sie ungehemmt versäuft, steht für Jeannette fest, dass sie weg muss.
Die drei älteren Geschwister schaffen es. Sie unterstützen sich gegenseitig in New York, die ältere Schwester wird Grafikerin, der Bruder Polizist und Jeannette ergattert sogar einen Studienplatz. Nur die jüngste Tochter bleibt ein Problemkind. Einige Jahre später ziehen die Eltern ebenfalls nach New York und leben als Obdachlose, bis der Vater schliesslich stirbt. Heute lebt die Mutter in einem Häuschen, das ihr Jeannette zur Verfügung gestellt hat. Ihre verwahrloste Lebensweise allerdings hat sie in dieses neue Zuhause mitgebracht.
Das Beeindruckendste an dieser Geschichte ist aber, dass Jeannette Walls nicht anklagt. Sie macht keine Vorwürfe, sie will kein Mitleid und keine Genugtuung. Sie erzählt einfach ihre Geschichte, klar und direkt, ehrlich und ohne Effekthascherei. Und genau das macht die Stärke und die Wirkung dieses Buches aus. Dass Menschen mit einem derartigen Hintergrund es aus eigener Kraft schaffen, aus der Misere herauszukommen, ja sogar an einer der renommiertesten Universitäten zu studieren, das rückt das eigene Schicksal in ein ganz anderes Licht. Bewunderung bleibt zurück, Bestärkung. Und ein wenig Demut.