So geht es mir immer. Ich will mal schnell etwas schreiben, mal kurz eine Schreibübung machen, ein paar Gedanken festhalten. Und wenn ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist eine Stunde um. Der Text ist schon zwei, drei Seiten lang, und ich bin noch nicht einmal bei meinem Kerngedanken angelangt.
In der Kürze soll ja bekanntlich die Würze liegen. Mag sein. Aber wenn dem so ist, führt der Weg für mich immer über die Länge. Nicht, dass das so geplant wäre. Wenn ich zu schreiben anfange, ist mir der eine Gedanke, der Hauptpunkt der Aussage oder der Szene vollkommen klar. Scharf gezeichnet, greifbar nah. Ich muss ihn nur schnell aufschreiben … Doch wenn ich an meinen Schreibkursen oder Seminaren die Schreibübungen mitschreibe, tut sich mir jedes Mal eine ganz neue Geschichte auf. Nach den ersten paar Zeilen sehe ich den Ort vor mir, ein Zimmer, eine Landschaft, eine Strasse. Ein Mann, der gebückt um die Ecke biegt, als trage er eine schwere Last. Eine Frau mit zerzausten Haaren, die sich verwirrt umschaut. Das Kind, das nach den fliegenden Herbstblättern jagt, immer ein noch schöneres, farbigeres. Und als es sich umdreht, ist seine Mutter verschwunden … Warum geht der Mann so gebückt? Was hat die Frau so verwirrt? Und das Kind, ein Mädchen, etwa fünf Jahre alt, was tut es …
Da klingelt der Handyalarm, zwanzig Minuten sind um und ich bin mit einem Schlag zurück vor dem Bildschirm. Während die Teilnehmer dann ihre Texte vorlesen, staune ich oft, wie sie in dieser kurzen Zeit etwas Abgeschlossenes zustande bringen. Wie sie ihre Szenen, Miniaturen, ihre Betrachtungen auf den Punkt bringen, während ich gerade mal einen ersten Einblick in eine neue Geschichte geschafft habe.
Vor einigen Jahren nahm ich eine sechswöchige Auszeit, mietete ein Rustico im Tessin und verzog mich zum Schreiben. Mit im Gepäck war Julia Camerons «Der Weg des Künstlers», ein wunderbares Arbeitsbuch. Eine Übung daraus lautete «The Narrative Timeline», bei der man sein Leben chronologisch aufschreiben sollte, auf zwei, drei Seiten wohlverstanden, von Hand. Ich schrieb fast die ganzen sechs Wochen daran. Ich füllte drei, vier Schulhefte. Und während mein Verstand sich nervte, weil ich doch in diesen sechs Wochen das ganze Buch hatte durcharbeiten wollen, lachte meine kreative Seite, mein inneres Kind tanzte, meine Seele jubelte. Denn in diesen Wochen tauchten nicht nur unzählige Erinnerungen auf, an die ich sonst wohl kaum mehr gelangt wäre, sondern ich erkannte plötzlich Zusammenhänge, Verbindungen klickten und Einiges, was mir bisher unerklärlich gewesen war, ergab plötzlich einen Sinn. Das war nicht immer angenehm, aber es befreite mich von ungesunden Glaubenssätzen und falschen Interpretationen, die mein ganzes Leben geprägt hatten. Effizient war sie nicht, diese Schreiberei, aber unglaublich wertvoll.
Die Spitze des Eisbergs
Daran denke ich, wenn ich mich jeden Tag einer der hundert Fragen widme, die ich meiner Hauptfigur stellen soll. Auch so eine Schreibübung. Habe ich selber in der Roman-Werkstatt den Teilnehmern mit auf den Weg gegeben. Ich habe schon achtundfünfzig Seiten geschrieben, und noch immer sind dreiundvierzig Fragen nicht beantwortet. Eigentlich habe ich ja gar keine Zeit, ich wollte doch mit dem Überarbeiten beginnen …
Wenn man sich auf seine Figuren einlassen will, muss man sich diese Zeit aber leisten. Ich weiss in der Zwischenzeit so gut über die Kindheit meiner Hauptfigur Bescheid, dass ich immer mehr verstehe, warum sie so handelt, wie sie es eben tut. Ich erkenne plötzlich, was es mit ihrem schwulen Bruder auf sich hat, warum sie dann doch nach Argentinien geht, was diese oder jene andere Figur in der Geschichte für eine Bedeutung hat und, und, und … Wahrscheinlich wird kaum eine Szene aus diesen hundert Fragen im Roman auftauchen. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass ich sie kenne. Oder wie Hemingway es in seiner Eisberg-Theorie formulierte: Wenn der Autor alles über seine Figuren weiss, dann genügt es, dass in der Geschichte nur die Spitze des Eisbergs zu lesen ist. Denn das Wissen des Autors über den restlichen Eisberg wird in dieser Spitze zu spüren sein.
Die Länge muss also sein. Jedenfalls für mich. Sie schafft Tiefe und Nähe. Den Eisberg. Das Kürzen, das Rausstreichen, das Zusammenschrumpfen einer Szene auf einen Satz, das kommt später. Darauf freue ich mich. Aber jetzt ist erst mal die Länge an der Reihe.