“Die Erfindung der Flügel” von Sue Monk Kidd
Die Erfindung der Flügel
Sue Monk Kidd
übersetzt von Astrid Mania
btb Verlag, gebundene Ausgabe
496 Seiten
Die meisten Bücher, die bei Amazon ungewöhnlich viele gute Bewertungen erhalten, haben auch meist einige im unteren Bereich; drei, zwei oder gar nur einen einzigen Stern. Nicht so dieses Buch. Von den siebzig Bewertungen, die es zum Zeitpunkt dieser Rezension erhalten hatte, waren alle im Vier- oder Fünf-Sternebereich, und das ist schon bemerkenswert.
Ich kannte die Autorin von der «Bienenhüterin», ein Buch, das mich begeistert hat. Dann las ich «Die Meerfrau» und war sehr enttäuscht. Zum Glück las ich «Die Erfindung der Flügel» trotzdem, denn hier hat die Autorin wieder zu ihrer alten Stärke zurückgefunden.
Worum geht es? Sarah Grimké, Tochter eines Anwalts und Plantagenbesitzer im Charleston zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhält zu ihrem elften Geburtstag ein besonderes Geschenk: die beinahe gleichaltrige schwarze Sklavin Hetty, genannt «Handful». Für Sarah ist klar, dass sie keinen Menschen besitzen will; sie möchte Handful die Freiheit geben. Aber damit stösst sie bei ihrer Familie nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf Konsequenzen: Ihre eigene Freiheit wird beschnitten. Sarah rächt sich auf ihre eigene Weise und bringt Handful heimlich das Lesen und Schreiben bei, obwohl dies streng verboten ist. Zwischen den beiden Mädchen entwickelt sich eine Art Freundschaft, soweit unter diesen Umständen überhaupt möglich.
Abwechselnd aus der Perspektive von Sarah und Handful folgt der Leser dem Leben der beiden Frauen über die nächsten vierzig Jahre. Sarah, schon früh in der Liebe verraten, versucht, um die vielen Verbote und Konzessionen herum ihre Aufgabe und ihren Platz im Leben zu finden, immer wieder geplagt von eigenen Zweifeln. Zeitweise versucht sie sich anzupassen, doch kann sie sich und ihre Überzeugungen nie lange verleugnen. Handful hingegen hat von ihrer Mutter den Wunsch nach Freiheit in die Wiege gelegt bekommen. Als begabte Näherinnen fertigen Mutter und Tochter nicht nur die schönsten Kleider für ihre Besitzerinnen an, sondern auch kunstvolle Quilts mit Afrikas Freiheitssymbolen, während sie viele körperliche und seelische Grausamkeiten erdulden müssen.
Obwohl gesellschaftlich weit voneinander entfernt, sind Sarah und Handful durch das Gefangensein in einem Leben, das sie nicht wollen, verbunden. Sarah muss sich den Regeln der weissen, von Männern dominierten Gesellschaft unterordnen, und Handful ist der weitaus grausameren Verknechtung der Sklaven ausgesetzt, zu deren Alltag Erniedrigungen und Folter gehören.
Über weite Strecken berühren sich die Leben der beiden Frauen kaum. Doch vor dem Hintergrund der Befreiungsbewegungen und ersten Aufstände der Sklaven und dem Beginn der Frauenrechtsbewegung beginnen langsam die Flügel der beiden Frauen zu wachsen. Sarah zieht in den Norden und findet ihre Aufgabe schliesslich, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Angelina, als Rednerin und Publizistin der Abolitionsbewegung, wird erst von den Quäkern unterstützt, aber später, als sie sich auch für die Rechte der Frauen einsetzt, fallengelassen. Und Handfuls Cleverness, Unbeugsamkeit und innere Stärke lassen schliesslich einen Plan in ihr wachsen, bei dem sie alles riskiert, aber auch alles gewinnen kann. Mit Hilfe ihrer weissen Freundin.
Die Grimké-Schwestern Sarah und Angelina sind historische Figuren. Sie waren die ersten offiziellen Rednerinnen der Anti-Sklaverei-Bewegung und zählen zu den ersten bedeutenden Frauenrechtlerinnen. Die beiden waren zu ihrer Zeit berühmt und berüchtigt, sind aber heute fast vollkommen in Vergessenheit geraten. Mit diesem Buch setzt ihnen – und all den Sklaven, vertreten durch Handfull – Sue Monk Kidd ein würdiges Denkmal. Sie beschönigt nichts, zeigt den Alltag mit all seinen Ungerechtigkeiten und Brutalitäten, missbraucht dies aber nie als Effekthascherei, und so sind die wenigen «schlimmen» Szenen auch für empfindliche Gemüter wie mich erträglich.
«Die Erfindung der Flügel» ist eine Geschichte über Freiheit, über die Suche nach der eigenen Bestimmung, über die Treue zu der eigenen Stimme – ungeachtet der Umstände – und nicht zuletzt über eine ungewöhnliche, scheue Freundschaft, die, so zurückhaltend sie auch gelebt wird, schlussendlich einen grossen Einfluss auf das Leben der beiden Frauen hat. Poetisch, voller Bilder und vor allem sehr empathisch erzählt Sue Monk Kidd von einer Zeit, für die man sich am liebsten irgendwie entschuldigen möchte.
PS: Ich habe das Buch auf englisch gelesen, die deutsche Übersetzung kann ich deshalb nicht beurteilen.
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