“In Küstennähe” von Joachim B. Schmidt
In Küstennähe
Joachim B. Schmidt
Landverlag
Gebundene Ausgabe
368 Seiten
Schon wieder ein Buch mit einem jungen Mann als Hauptfigur (nicht gerade typisch für meine Lieblingsbücher), und dann noch einer, der nicht wirklich sympathisch rüberkommt: Larus führt ein Doppelleben. Jenes als Hilfshausmeister in einem Altersheim dient als Tarnung für das andere, in dem er mit Drogen dealt. Er besäuft sich jedes Wochenende, um der eigenen Leere zu entkommen, schlägt die restliche Freizeit vor dem Computer tot und übertüncht seine Unsicherheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht mit Fiesheit. Aber dies erfährt man erst nach und nach, und bis es soweit ist weiss man bereits, dass der junge Mann auch zu Empfindungen wie dieser hier fähig ist: „Eine Unschuld lag über dem Wasser, im kühlen Abendwind, dem Glitzern der letzten Sonnenstrahlen auf den Wellen, als wäre die Welt eben erst erschaffen worden.“ Hinter dem Tagedieb Larus steckt also nicht einfach ein Fiesling, der sein Leben sinnlos dahinverschwendet, sondern eigentlich ein ganz netter Kerl. Aber auch das erfährt der Leser erst nach und nach und derart beiläufig, als wäre es bloss eine Nebensache. Überhaupt weiss man zunächst gar nicht so richtig, warum einem die Geschichte nicht mehr loslässt.
Vielleicht deshalb, weil Larus im Altersheim wegen eines kaputten Heizkörpers in Zimmer 37-A landet, und weil in diesem Zimmer nicht irgendein Alter haust, sondern Grímur, genannt „Der Schlächter“. An diesen Grímur hat Larus eine nicht gerade salonfähige Kindheitserinnerung. Ausserdem will er wissen, was es mit dem “Schlächter” auf sich hat. Blöd ist nur, dass Grímur nicht mehr spricht. Zumindest nicht am Anfang. Larus trödelt deshalb mit der Reparatur des Heizkörpers so lange wie möglich herum, und als er diesen danach auch noch frisch streichen darf, kommt es zum ersten Wortwechsel zwischen den beiden so völlig verschiedenen Männern.
Während Larus von seinen Eltern erfährt, dass Grímur auf See seine Halbschwester umgebracht haben soll, lenkt ihn sein eigenes Leben mit allerlei Erfahrungen, die nicht mehr in sein altes Ich passen wollen, immer wieder von Grímurs Geschichte ab. Er entdeckt, dass er gar nicht so fies ist mit Frauen, wie er gerne sein möchte, denn Sofia geht ihm nach einem One Night Stand nicht mehr aus dem Kopf. Er erkennt, dass das Dealen mit Drogen nicht nur einsam macht sondern auch ziemlich gefährlich werden kann, und dass er damit eigentlich Schluss machen und der engen Welt der isländischen Fjorde entkommen möchte. Und als er sich in einem Moment der Verzweiflung nicht nachhause, sondern in Grímurs Zimmer flüchtet, nimmt die kratzbürstige Freundschaft ihren Lauf.
Neben den Hauptfiguren überzeugen in dem Roman zum einen auch Schmidts Nebenfiguren, zum Beispiel Larus’ Vorgesetzter im Altersheim: „Helmut Irgendwas – seinen Nachnamen habe ich jetzt vergessen – hiess mein Chef, ein Ausländer, ein Deutscher mit Schnurrbart, ganz wie aus dem Bilderbuch: lang, humorlos, sarkastisch und verdammt tüchtig.“ Schmidt hatte wohl in seinen vielen Tätigkeiten – neben seiner Ausbildung zum Hochbauzeichner arbeitete er auch schon als Knecht, Gärtner, Trockenmaurer, Kellner, Hilfskoch, Molkereiarbeiter und Rezeptionist – viel Gelegenheit, Menschen zu beobachten. Auch Island kennt Schmidt aus eigener Erfahrung, lebt er doch selber seit einigen Jahren im Land der tiefen Fjorde und der endlos langen Winternächte, die sich wahrscheinlich nur mit einer Unmenge an wahren und halbwahren Geschichten aushalten lassen.
Eine solche Geschichte ist es, die Schmidt in „In Küstennähe“ erzählt, erfahren hat er sie von einem waschechten Schafbauer aus dem Nordwesten Islands. Schmidt erzählt sie, der Ich-Stimme der Hauptfigur entsprechend, streckenweise lakonisch, vorwärtsdrängend und erstaunlich berührend. Und wie es sich für eine gut erzählte Geschichte gehört, nimmt sie immer mehr Tempo und Spannung auf, je mehr sie sich dem Ende nähert. Der Höhepunkt ist eine grossartige Szene in einer derart überzeugenden Kulisse, dass man beim Lesen das eiskalte Wasser am eigenen Leib zu spüren glaubt und froh ist, sich nicht selber in Küstennähe zu befinden, „die steilen Fjorde im Rücken, das offene Meer vor mir …“.
Ein grosses Plus gibt es von mir ausserdem für einen Schluss, der alle Handlungsstränge zu Ende führt und den Leser befriedigt zurücklässt. Zwar kein eindeutiges Happy End, aber irgendwie eben doch.
Fazit: „In Küstennähe“ ist die Geschichte eines jungen Mannes der, nicht zuletzt durch die zufällige, unerklärliche Freundschaft zu einem sagenumwobenen Greis herausfindet, wer er ist und wer eben nicht. Es ist ebenso die Geschichte dieses Greises, der kurz vor seinem Tod doch noch jemandem begegnet, dem er seine Geschichte anvertrauen kann. Unprätentiös erzählt, frei von jeglichem Kitsch und Pathos, ist „In Küstennähe“ ausserdem ein Island-Roman, ein Krimi, und ein klein wenig auch eine Liebesgeschichte. Vor allem aber ist der Roman ein beeindruckend gelungenes Debüt.
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