Der Lesemonat April war eher durchzogen: Nur ein Buch habe ich von Anfang bis Ende gelesen. Zwei habe ich abgebrochen und das dritte nach etwa zwei Dritteln nur noch quergelesen. Die Anzahl gelesene Seiten ist daher mit 660 eher bescheiden.
Ruhm von Daniel Kehlmann (203 Seiten)
Ein «Roman in neun Geschichten» sei dies, so steht es auf dem Cover. Vermutlich vor allem deshalb, weil die Marketingleute in Verlagen der Meinung sind, Romane verkaufen sich besser als Kurzgeschichten. Dabei stehen nur zwei Geschichten in direktem Zusammenhang, die anderen haben mehr oder wenig lose Verbindungen zueinander. So ist oft eine Nebenfigur der einen Geschichte Hauptfigur in der anderen, aber ein Roman wird trotzdem nicht daraus. Man fühlt sich eher so, als mache der Autor viele Fenster auf und gleich wieder zu. Manche Geschichten haben eine interessante Ausgangslage, z.B. die, in der ein Mann auf seinem Handy die Nummer eines noch bestehenden Anschlusses zugeteilt bekommt und so ständig Anrufe von ihm fremden Leuten erhält. Um sein langweiliges Leben aufzumotzen, gibt er sich zuerst nicht zu erkennen und spielt später gar mit, was seinem Leben einen kurzfristigen Kick verleiht. In einer anderen Geschichte liest man dann, was mit dem tatsächlichen Inhaber der Handynummer passiert ist. Die Idee ist originell, aber die Geschichten sich nicht schlüssig, laufen oft ins Leere und ergeben vor allem keinen Roman. Zu lesen sind sie flott, die Sprache ist ansprechend, aber einen Nachhall erzeugen sie nicht. So etwas nennt man wohl Einweglektüre.
Frühling, Sommer, Herbst und Tod von Stephen King, Teil 2 (?? Seiten)
übersetzt von Harro Christensen
Der zweite Kurzroman in diesem King-Schmöker war mir dann doch zu gruselig. Nicht, weil Blut floss (was im letzten Drittel durchaus der Fall ist), sondern vor allem wegen der psychologischen Entwicklung.
Die Geschichte beginnt recht harmlos; ein “ganz normaler amerikanischer Junge” radelt in ein Wohngebiet und klingelt an einer bestimmten Haustüre. Als sich die Türe endlich öffnet, steht dahinter ein abgemagerter, heruntergekommener alter Mann, der den Jungen sogleich wieder wegschickt. Der aber hat schon den Fuss in der Türe und droht ihm, ihn zu verraten. Denn der Alte hat eine Nazi-Vergangenheit. Abstreiten hilft nichts, er muss bald einsehen, dass der Junge viel zu viel weiss. Er lässt ihn hinein, bietet ihm Geld an, aber der Junge will etwas anderes. Er will, dass ihm der Alte von seiner Vergangenheit erzählt, von den KZ und “wie sie es gemacht haben”. Täglich steht der Junge nun vor der Tür des Alten und will immer mehr wissen, während der Alte sich betrinkt und sich windet. Einmal bringt ihm der Junge eine – zwar nachgemachte, aber dennoch ihre Wirkung nicht verfehlende – Naziuniform und lässt den Alten darin auf und ab marschieren. Immer dreister werden seine Forderungen, und sie bleiben weder beim Alten noch bei dem Jungen ohne Folgen. Als seine Leistungen in der Schule rapide abnehmen, spannt er den Alten auch da in seine Pläne ein, aber das Lügengebilde und die Schreckensbilder zermürben ihn. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis auch sinnlos getötet wird.
Die Grausamkeit dieses jungen Menschen habe ich beim Lesen kaum ausgehalten, und auch die Verwandlung des Alten lief in eine Richtung, die ich mir nicht länger antun wollte, und so habe ich nach etwa zwei Dritteln nur noch quergelesen. Ist halt doch eine Stephen-King-Geschichte: zwar in toller Sprache geschrieben, aber in den widerlichsten Abgründen der Psyche angesiedelt.
Kleine Paläste von Andreas Moster (304 Seiten)
Klappentext: “Mehr als dreissig Jahre haben Hanno Holtz und Susanne Dreyer sich nicht gesehen, obwohl sie direkt nebeneinander aufgewachsen sind. Nun ist Hanno in die Kleinstadt seiner Kindheit zurückgekehrt und kümmert sich nach dem Tod seiner Mutter um den Vater. Unsicher streift er durch die kleine Welt, aus der er als Jugendlicher vor Jahrzehnten ausgebrochen ist. Susanne sieht ihm dabei zu. Sie hat ihr Elternhaus und besonders den Platz am Fenster im Obergeschoss mit Blick auf das Haus der Familie Holtz nie verlassen. Als sie sich entschliesst, Hanno ihre Hilfe anzubieten, wird die Ruhe des Ortes gestört. Denn plötzlich treffen alte Erinnerungen aufeinander, in deren verschleiertem Zentrum eine Geburtstagsfeier im Sommer 1986 steht. Niemand ist davon unversehrt geblieben und niemand kann den Blick abwenden, als nach fast dreissig Jahren nun Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt.”
Eine interessante und geheimnisvolle Ausgangslage für eine gute Geschichte. Sie beginnt damit, dass Hannos Mutter ihren eigenen Tod beschreibt und die Schuld daran dem Familienhund gibt, der angeblich schon seit Jahren Mordspläne gegen sie hegt. Hanno muss nachhause kommen, denn sein Vater sitzt im Rollstuhl, und die ursprüngliche Idee, ihn in ein Pflegeheim zu geben, verwässert immer mehr. Doch Hanno, der sich bisher vom Leben hat treiben lassen, ist mit der Pflege seines Vaters völlig überfordert und daher unendlich dankbar, als Susanne ihm Hilfe anbietet.
hat mich die Sprache begeistert, wenn sich zum Beispiel ein ganzer Tag in einem Tropfen Schnaps spiegelt, oder wie die Begegnung von Susanne und Hannos Vater an der Beerdigung beschrieben wird. Was da wohl vorgefallen ist? Denn das etwas vorgefallen ist, ist klar.
Mit der Zeit hat mich die Geschichte aber verloren. Die Rückblenden zogen sich hin und verfranselten sich zum Teil, die Figuren blieben trotz allem distanziert und konnten mich nicht erreichen. Hanno, der sein Leben vor sich hinlebte, weil ihn die Eltern nicht unterstützt haben; sein Kindheitstraumata, weil er gezwungen wurde, an eben jenem Fest etwas vorzuspielen und kläglich versagt hat. Susanne, die zwanghaft am Feldstecher hängt und beinahe durchdreht, als die Vorhänge ein paar Tage zubleiben. Und die Mutter, die mit ihren verworrenen Kommentaren aus dem Jenseits Informationshäppchen einwirft. Der Roman läuft vermutlich auf ein Drama hinaus, und es mag sein, dass das Ende gelungen ist. Doch obwohl die Geschichte vielversprechend begann und sprachlich einiges bot, habe ich nach etwa der Hälfte das Interesse daran verloren und das Buch abgebrochen.
Die entscheidende Nach von Tobias Wolff (288 Seiten)
übersetzt von Frank Heibert und Ulrich Blumenbach
Tobias Wolff kenne ich von seinem Roman “Alte Schule”, eines der wenigen Bücher, die ich zweimal gelesen habe. Auf diese Kurzgeschichtensammlung war ich deshalb sehr gespannt. Die erste Geschichte handelt von einem abgehalfterten Journalisten, der eines Tages vom Redakteur in dessen Büro zitiert wird, weil dort ein Mann steht, auf den der Journalist am Tag zuvor einen Nachruf geschrieben hat. Ein kleiner Streit entfacht sich, der Redakteur muss sein Gesicht wahren und wirft den Journalisten hinaus. Draussen auf der Strasse wartete der Totgeschriebene auf ihn, will sich mit ihm unterhalten, stellt ihm Fragen, die im Journalisten alsbald einen vermutlich nicht ganz unberechtigten Verdacht aufkommen lassen.
Dieser gelungene Auftakt liess Gutes vermuten, was sich aber leider nicht erfüllte. Zwar ist die Sprache überzeugend, und es ist unbestreitbar, dass Wolff ein begnadeter Menschenkenner und Figurenzeichner ist. Jeder seiner Charaktere ist lebensecht, überzeugend und stimmig. Stimmige Geschichten darf man von diesem Buch allerdings nicht erwarten. Es sind eher Momentaufnahmen oder Ausschnitte, die wirken, als hätte der Autor sich von Zeitungsmeldungen inspirieren lassen und dann die Figuren entworfen, die zu der Meldung passen. Das ist ihm hervorragend gelungen. Wer allerdings zu Ende geführte, durchdachte Geschichten mit einer Aussage erwartet, wird – wie ich – enttäuscht werden.
Lesemonat April 2022 als PDF.
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