Der Dezember war kein ergiebiger Monat in Bezug auf gute Lektüre. Von sechs angefangenen Büchern habe ich nur zwei fertig gelesen, eines ist noch “in Arbeit”, drei habe ich abgebrochen. Insgesamt waren es 624 Seiten (die der abgebrochenen Bücher nicht gezählt). Drei Bücher habe ich neu erstanden (eines davon Second Hand), eines stammte aus meinem Regal und zwei aus der Bibliothek. In die Lese-Empfehlungen schaffte es keines der gelesenen Bücher.
Geflochtenes Süssgras von Robin Wall Kimmerer (453 Seiten)
übersetzt von Elsbeth Ranke
In den Monat gestartet bin ich mit einer Empfehlung von der Person, der ich auch den “Elefantenflüsterer” zu verdanken habe, und der ist zu einem meiner Lieblingsbücher avanciert – die Erwartungen waren also hoch. Das Buch ist ein New York Times Bestseller, beim grössten online-Buchhändler überschlagen sich die Toprezensionen, und Grössen wie Elizabeth Gilbert oder Jane Goodall loben es in den Himmel. Auch das Thema schien interessant: das Verweben von indigener Weisheit und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu einem Zopf aus Geschichten über die Grosszügigkeit der Erde. Doch einmal mehr schwimme ich gegen den Strom; das Buch gefällt mir nicht. Es gab durchaus schöne Sätze, wie etwa ” … stand die Sonne gerade über dem Ostufer und saugte in langen, weissen Spiralen den Dunst vom See.” Dennoch konnte mich die Erzählweise nicht packen. Sie mäandert für meinen Geschmack zu sehr umher, erzählt mal hier ein wenig, verharrt dort, hüpft dann zur nächsten Sicht, kommt auf etwas zurück. Diese Erzählweise wirkte auf mich wie ein Wanderführer, der über jede Pflanze, jeden Stein, jede Hütte etwas zu erzählen weiss, was zwar teilweise interessant ist, aber über all dem verliert er das Gefühl für die Zeit und vielleicht sogar den Weg. Am interessantesten waren für mich die Passagen über den Werdegang der Autorin, ihre Sichtweise und wie sie damit nicht überall Gehör fand. Aber die langen Ausführungen und Beschreibungen dazwischen verloren mich bald, weil sie auf mich sehr unstrukturiert wirkten, mich nicht lockten, mir nichts versprachen, scheinbar auf nichts zusteuerten. Deshalb leider keine Empfehlung von mir.
Meine Cousine Rachel von Daphne du Maurier (416 Seiten)
übersetzt von Christel Dormagen/Brigitte Heinrich
Weiter ging es mit einer Autorin, von der ich vor vielen Jahren ihr wohl bekanntestes Buch “Rebecca” gelesen hatte. Seit dem Tod seiner Eltern lebt Philipp bei seinem wohlhabenden Vetter Ambrose in Cornwall – bis der langjährige und überzeugte Junggeselle auf einer Florenzreise überraschend heiratet und in seinen Briefen von seinem Eheglück mit Rachel schwärmt. Mit der Zeit jedoch werden die Briefe seltener, die Inhalte verwirrender. Eines Tages trifft ein beunruhigender Hilferuf aus Italien ein: Ambrose ist an einem rätselhaften Leiden erkrankt und fühlt sich von Rachel bedroht. Philipp reist alarmiert nach Florenz, doch er kommt zu spät: Ambrose ist tot, und die Witwe ist abgereist. Philipp ist überzeugt, dass Rachel am Tod seines Vetters Schuld ist und hasst sie von ganzem Herzen. Doch kurz darauf steht sie vor seiner Tür, und sie ist ganz anders, als er sie sich vorgestellt hat; weltgewandt, humorvoll, intelligent. Philipp, dem es an jeglicher Erfahrung mit Frauen fehlt, verfällt der schönen Frau immer mehr, lässt sich von ihr manipulieren, spürt zum ersten Mal die scharfe Klinge der Eifersucht. Und dann erkrankt auch er …
Der fünfundzwanzigjährige Philipp hat sein Dorf nie verlassen. Ihm mangelt es an Menschenkenntnis, er lebt in seiner abgeschotteten Welt, ist naiv und ein verwöhntes Kind. Cousine Rachel dagegen ist wetterwendisch, mal kalt, mal zärtlich, mal vorsorglich, mal verführerisch, sie weiss genau, was sie will und verdreht allen Menschen den Kopf. Ihre Manipulation und ihre Forderungen sind elegant versteckt und subtil. Eifersucht und Misstrauen sind untergründig aber immer präsent. Daphne Du Maurier lässt sich Zeit mit der Geschichte, gibt der Atmosphäre Raum, sich in aller Ruhe zu entfalten. Effekthascherei und Gewalt hat sie nicht nötig; der Grusel findet zwischen den Zeilen statt. Die Sprache ist genauso subtil, überlässt der Handlung die Bühne. Die Stimmung ist geheimnisvoll und eher ruhig, mit einer unterschwelligen Spannung, die zum Ende hin immer mehr anzieht. Ein spannendes, unterhaltsames Lesevergnügen.
Letzte Nacht von James Salter (150 Seiten)
übersetzt von Malte Friedrich
Zwischen zwei Romanen lese ich gerne ein paar Kurzgeschichten; diesmal landete “Letzte Nacht” auf meinem Nachttisch. Salter ist unbestritten ein Meister des Weglassens, des minimalistischen Tons. Mit nur wenigen Sätzen skizziert er eine Stimmung, eine Beziehung, die Charakterbeschreibungen sind beeindruckend griffig. Die zehn Geschichten handeln von meist arrivierten New Yorkern ü30, die alle in unbefriedigenden Beziehungen leben. Ehebruch, das Vergehen glücklicher Zeiten, unheilbare Krankheiten und die dahinschwindende weibliche Schönheit – diese Themen treiben Salters Figuren um, wobei sie aber eher mit sich selbst ringen als mit dem Schicksal. Obwohl ich die Erzählweise Salters bewundere, habe ich das Buch nach ein paar Geschichten abgebrochen. Denn einerseits macht es den Anschein, als ob er bei einigen Geschichten Anfang und Ende weggeschnitten hätte. Das hätte ich ihm noch verziehen. Was mich aber störte, war diese allem zugrunde liegende Hoffnungs- und Ausweglosigkeit, die die Figuren als unausweichlich akzeptieren. Es muss nicht immer ein Happy End sein, aber entweder ein wenig Hoffnung oder zumindest eine Entwicklung der Figuren, das brauche ich schon, damit mich eine Erzählung begeistert. Wer darauf nicht so viel Wert legt wie ich, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen, denn es ist zweifelsohne grosse Literatur.
Cyril Avery von John Boyne (736 Seiten)
übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Ein Irland-Epos sei es, dieses Buch, ein grandioses irisches Sitten- und Gesellschaftsgemälde; tragikomisch, enthüllend und einfühlsam. So steht es auf dem Klappentext. Als Irlandfan freute ich mich sehr auf dieses “Epos”. Anfangs hat mich der Schreibstil einigermassen überzeugt. Zum ersten Mal etwas befremdet war ich, als der Ich-Erzähler im Alter von sieben Jahren von seinen doch ziemlich skurrilen Adoptiveltern erzählt, die ihm jegliche Liebe versagen. Dem Kind scheint das rein gar nichts auszumachen, es plaudert munter drauflos, erzählt, wie Julian in sein Leben tritt und die beiden Jungs gleich als erstes ihre Penisse auspacken und vergleichen. Nun gut, auch das geht ja noch an, und die Ignoranz in Bezug auf Elternliebe kann Programm sein. Nach dem nächsten Zeitsprung ist der Erzähler vierzehn Jahre alt und auf einer Internatsschule. Zufällig wird Julian sein Zimmergenosse, Cyril ist überglücklich, obwohl sich Julian kaum an ihn erinnert. Und fortan geht es fast ausschliesslich um zwei Dinge: Julian will so viele Mädchen wie möglich ins Bett kriegen, lügt und schummelt zu diesem Zweck, was das Zeug hält. Und Cyril vergeht fast vor Sehnsucht nach ihm, lässt sich von ihm sogar blossstellen und ausnützen. Die Szenen sind lang und länger, die Figuren werden immer überzeichneter, so dass man sich irgendwann in einem Slapstick wähnt als in einem “einfühlsamen” Roman (z.B. in der Szene auf dem Polizeirevier, als Cyril zu Julians Entführung aussagen muss). Dieser dicke Roman handelt hauptsächlich von der Diskriminierung der Homosexuellen im Irland der 50er, 60er und späteren Jahre. Das ist zwar unbestritten ein wichtiges Thema, aber intime Details homosexueller Praktiken und detailliert geschilderte Sexszenen, die über mehrere Seiten ausgeschlachtet werden, sind nun mal nicht das, was ich von einem “Irland-Epos” erwarte. Nach etwa 200 Seiten habe ich aufgegeben, froh darüber, dass ich mir das Buch nur ausgeliehen und nicht gekauft habe.
Das Fest von John Grisham (208 Seiten)
übersetzt von Michelle Pyka
Ich bin nicht der Typ, der im Dezember “Weihnachtsbücher” liest. Dieses Jahr hat mir jemand jedoch dieses Buch empfohlen, und als ich es im Second-Hand-Laden entdeckte, nahm ich es mit.
Zum ersten Mal sei zwanzig Jahren werden Nora und Luther Krank Weihnachten ohne ihre Tochter Blair verbringen, denn diese reist kurz vor dem Fest für einen längeren karitativen Einsatz nach Peru. Nachdem Luther in einer schlaflosen Nacht ausgerechnet hat, was er und seine Frau jährlich für Weihnachten ausgeben, hat er eine Idee: Warum nicht einmal den aberwitzigen Stress ausfallen lassen? Keine unnützen Geschenke, keine traditionelle Weihnachtsparty, keine Weihnachtskarten, kein Tannenbaum? Stattdessen eine Kreuzfahrt machen, die sie gerade mal halb so viel kostet? Die Idee ist bestechend, doch nachdem auch Nora etwas skeptisch zugestimmt hat, wird dieser Weihnachtsboykott zu einem Spiessrutenlauf. Die Kranks sind nun die einzigen in der ganzen Strasse, die nicht nur keinen Tannenbaum kaufen und die jährlichen Spendeneintreiber abwimmeln, sondern sie bringen auch keine Weihnachtsbeleuchtung auf ihrem Grundstück an, und der Kunststoff-Weihnachtsmann “Frosty” bleibt im Keller. Damit verstossen sie aufs Heftigste gegen die gesellschaftlichen Konventionen ihrer kleinen Gemeinde. Nachbarn, Bekannte und Freunde machen den Kranks fortan das Leben schwer. Statt des alljährlichen Vorweihnachtsstresses leiden die Kranks nun unter dem Kampf um Individualität und gegen das schlechte Gewissen, aus den Normen auszubrechen. Während Luther von seinen Kollegen da und dort noch Bewunderung und Ermunterung erntet, gerät Nora ins Schussfeld ihrer Freundinnen. Auch die Nachbarn werden aktiv, schicken den Kranks zum Beispiel Abend für Abend einen immer grösser werdenden Chor in den Garten, der sie mit Weihnachtsliedern beschallt. Die Vorurteile und die Intoleranz bringen die Kranks schliesslich dazu, im Dunkeln ihres Hauses auszuharren, bis endlich der 25. Dezember und somit ihr Abreisedatum da ist. Und dann kommt plötzlich ein Anruf. Von Blair. Überraschung …
So viel sei verraten: Es gibt dann doch noch ein Weihnachtsfest, wenn auch ein improvisiertes. Aber genau das bildet die Grundlage für das Happy End – wie es sich für Amerika gehört und auch das weihnachtliche Gemüt befriedigt. Das Buch ist keine hochstehende Literatur und natürlich auch kein typischer Grisham. Aber es ist ein kurzweiliges Lesevergnügen, das einem möglicherweise dazu anregt, über die eigenen “Weihnachtsgewohnheiten” nachzudenken.
Lesemonat Dezember 2021 als PDF.
Lesemonat November 2021
Pingback:Lesemonat Dezember - Welt des Schreibens