Was passt besser zum ersten Monat eines neuen Jahres als das Thema “Neu”? Von Neuanfängen oder dem Gegensatz zum Alten handeln denn auch die Bücher, die ich im Januar gelesen habe. Fünf sind es geworden, eines habe ich nur teilweise gelesen, eines abgebrochen. Insgesamt las ich 1056 Seiten.
Neujahr von Juli Zeh (191 Seiten)
Noch in Neujahrsstimmung griff ich zu Juli Zehs Neujahr, meinem ersten Buch von ihr, das mich leider nicht gerade motiviert hat, noch mehr von der Autorin zu lesen. In Neujahr begegnen wir Henning, einem Mann im Dauer-Verantwortungsstress: zwei kleine Kinder, Ehe, Beruf, ja sogar den Urlaub empfindet er als Stress. Der Kurzroman beginnt am Neujahrsmorgen, als sich Henning nach einem schwierigen Silvesterabend und einer ebenso schwierigen Nacht im Familienurlaub auf Lanzarote mit einem viel zu schweren geliehenen Fahrrad und schlecht ausgerüstet auf eine Fahrradtour begibt. Er will unbedingt den Steilaufstieg nach Fermés bezwingen. Aber bald schon leidet er auf den vulkanischen Bergstrassen, nicht einmal Wasser hat er dabei. Während er gegen seinen Kräftenachlass ankämpft, erfährt der Leser viel über seine Lebenssituation und dass er «eigentlich glücklich sein sollte», es aber nicht ist. Dass nicht alles so ist, wie es von aussen scheint, zeigt sich auch in den Erinnerungen an den gestrigen Abend. Und dann erfährt man, dass Henning unter Panikattacken leidet, die er «ES» nennt (Stephen King lässt grüssen …). Zwischen den Anfällen lebt er in ständiger Angst vor dem nächsten.
Das Interesse driftet weg …
So strampelt er die Strasse hoch, kann bald nicht mehr, aber Aufgeben ist natürlich keine Option. Ebenso wie reden; seine Anfälle versucht er, vor der ganzen Welt zu verbergen. Schon hier driftete mein Interesse langsam weg; wenn sich jemand in einer Situation, die sein ganzes Leben bedroht, keine Hilfe holt, kann ich das nur schwer nachvollziehen. Und dann noch diese Bergstrasse, die er unbedingt bezwingen wollte – warum? Was wollte er sich beweisen? Dass er doch noch alles im Griff hat? Ich konnte mich auch nicht mit dem Schreibstil anfreunden, er war mir zu hölzern, fast schon platt, und dieses ständige «Erster, Erster … ein … ein … aus … » erinnerte mich an eine bemühte Schreibübung.
Nach 51 Seiten hatte ich einfach keine Lust mehr, diesem Mann zu folgen, dessen Verhalten ich nicht nachvollziehen konnte und der mich nicht wirklich interessierte. Mittlerweile bin ich froh, dass ich abgebrochen habe, denn in den Rezensionen habe ich gelesen, dass es sich beim zweiten Teil, der Hennings Kindheit behandelt, um eine Art Psychothriller handelt. Ein Rezensent schrieb sogar, dass niemand, der Kinder hat, dieses Buch lesen sollte. Ob das stimmt, weiss ich nicht, aber ich möchte es auch nicht herausfinden. Der dritte Teil, bemängelten einige Rezensenten, sei lieblos, schnell und mit einer Küchentischpsychologie abgehandelt. Falls jemand von euch das Buch gelesen hat, bin ich gespannt auf eine Rückmeldung!
Neustart – nichts einfacher als das (253 Seiten)
Auch dieses Buch schien für das Monatsthema wie gemacht. Doch leider hat es sich der Diogenes-Verlag hier etwas sehr leicht gemacht, wenn nicht sogar ein wenig gemogelt. Auf dem Titelblatt steht «Mit Geschichten von …». Gut, dachte ich, eine Anthologie mit Geschichten über Neustarts – passt! Von den fünfzehn Texten waren aber gerade mal sechs richtige Geschichten (!). Den Rest des Buches hat der Diogenes-Verlag mit fünf (teilweise zähen, langatmigen) Berichten oder Abhandlungen und vier Auszügen aus Romanen aufgefüllt. Letzteres finde ich besonders ärgerlich. Was soll ich mit Auszügen aus Romanen? Ist das eine Marketingveranstaltung für andere Bücher? Für mich eine klare Mogelpackung, denn wo Geschichten drauf steht, sollten auch Geschichten drin sein. Ausserdem fand ich nicht längst bei allen Texten den Bezug zum Titel; bei manchen war er an den Haaren herbeigezogen, bei anderen fehlte er gänzlich.
Nun gut, also zu den richtigen Geschichten. Zwei davon haben mir gut gefallen, zwei mässig, zwei gar nicht. In «Das Schneckenhaus» von Joey Goebel sagt Winston Herman: «Ich habe mein Haus seit drei Jahren nicht verlassen, weil ich beschlossen habe, der Welt den Rücken zu kehren.» Er sei zu deprimiert, um das ganze Affentheater aufzuführen, das für den Umgang mit Menschen erforderlich sei. Und so hat er sich in seinem Schneckenhaus verkrochen, seine Tochter bringt ihm das Essen, er verbringt die Tage damit, aus dem Fenster oder in den TV zu schauen. Sein Haus ist vollgestopft mit Dingen, es ist kaum ein Durchkommen. Eines Abends sieht Winston eine Frau vor seinem Haus vorbeigehen, und diese Frau ist irgendwie anders. Plötzlich interessiert er sich wieder für einen anderen Menschen, und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Joey Goebel ist ein begnadeter Erzähler und schafft es, dass der Leser einen derart abgedrehten Protagonisten zwar nicht unbedingt sympathisch findet, aber sein Verhalten doch stückweise nachvollziehen kann.
Looser, und doch sympathisch
Auch Clemens Meyer schafft das in «Warten auf Südamerika». Frank ist ein typischer Looser, kommt mit Gelegenheitsjobs einigermassen über die Runden, schaut zu seiner alten Mutter. Eines Tages erhält er einen Brief aus Kuba; von seinem alten Freund Wolfgang. Dieser erzählt ihm, wo er sich gerade befindet, beschreibt die Aussicht, den Sonnenuntergang, sein Leben in Kuba. Und Frank beginnt zu träumen. Es folgen weitere Briefe aus verschiedenen Ländern in Südamerika, bald wartet Frank auf diese Briefe, denn sie werden zum Symbol, dass man es schaffen kann. Dass er es vielleicht auch schaffen könnte, denn Wolfgang hat es ja auch geschafft, und der stammt aus der gleichen Clique. Doch dann, durch eine zufällige Begegnung, schlägt die Wahrheit zu, die brutale, kalte Wahrheit. Doch will Frank sie überhaupt akzeptieren?
«Der Aussteiger» von Walter E. Richartz handelt von einem Mann, der nur noch zuhause sitzt und schreibt, was der Leser aber erst im Laufe der Erzählung erkennt. Der Mann erzählt von seiner Vergangenheit, von Episoden und Einsichten, die schlussendlich zu seinem Entschluss geführt haben, den niemand ausser ihm nachvollziehen kann. Die anderen drei Geschichten konnten mich nicht begeistern, auch nicht jene von Joachim B. Schmidt – übrigens der einzigen, die eigens für diese Textsammlung verfasst wurde. Von den 253 Seiten dieses Büchleins habe ich nur 166 gelesen. Wie gesagt: für mich eine Mogelpackung, die ich nicht empfehlen kann.
Die Europäer von Henry James (245 Seiten)
übersetzt von Andrea Ott
Aber dann wurde es besser! Henry James hat insgesamt zwanzig Romane und 112 Novellen veröffentlicht. Er wurde 1843 als Amerikaner geboren und starb 1916 als Engländer. Sein Roman Die Europäer erschien 1878 und reiht sich thematisch in das Verhältnis der kulturvollen alten und der puritanisch strengen neuen Welt ein, mit dem sich Henry James in seinen Werken immer wieder befasste.
Die Gegensätzlichkeit zwischen der «Alten Welt» Europa, die von einer lange kultivierten, psychologisch differenzierten Tradition geprägt ist, und der «Neuen Welt» Amerika mit ihrem vertrauensseligen, puritanisch geschnürten Gehabe äussert sich in diesem Roman durch die Frage, was Europäer wohl von Amerikanern unterscheidet. Da ist auf der einen Seite das ungleiche Geschwisterpaar Baronin Eugenia Münster, die durch ihre morganatische Ehe mit dem Prinzen von Silberstadt-Schreckenstein zu ihrem Titel gekommen ist, und ihr stets gut gelaunter und verständnisvoller Bruder, der Maler Felix Young. Etwas verarmt beschliessen die beiden – vor allem die Baronin – zu ihrem amerikanischen, steinreichen Onkel und dessen drei Töchtern zu reisen und dort eine oder zwei gute Partien zu machen. Leichtfüssig und amüsant erzählt James vom Aufeinandertreffen der puritanischen, starren, fast ängstlichen Neuengländer, die zwar Geld haben, aber nicht zu leben verstehen, und der zwar armen, aber beweglichen, aufgeschlossenen und genussfähigen Engländer. Beide sind voneinander fasziniert; die Amerikaner von der barocken, bestimmenden Cousine und ihrem Hauch von Adel, die Engländer vom Reichtum, der Moral und der fehlenden Kultur der Verwandten.
Immer neue Paarungen
Psychologisch vielschichtig entwirft James nun einen wunderbaren Reigen von unterschiedlichen Charakteren, die in immer neuen Paarungen aufeinandertreffen und sich in grossartigen Dialogen näherkommen, einander entdecken oder sich voneinander abwenden und sich grämen. Während Eugenia ihren Anstand, die ihr entgegengebrachte Ehrerbietung, ihre Zurückhaltung und ihre Schulung durch die Umgangsformen und Intrigen der hohen europäischen Gesellschaft einsetzt, um zu ihrem Ziel zu kommen, ist Felix ein Ausbund an Fröhlichkeit und Offenherzigkeit. Mit Witz und Verständnis kitzelt er die Geheimnisse aus seinen Verwandten heraus und hilft schlussendlich nicht nur sich selber zu seinem Glück.
Das Ganze liest sich heiter, zuweilen ironisch, aber nicht oberflächlich. Henry James soll sich für nichts so interessiert haben wie für Menschen, und das merkt man diesem Roman an. In welche Richtung sich die Dinge schliesslich entwickeln, wird nicht nur einnehmend, raffiniert und humoristisch, sondern auch mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie für die Figuren erzählt. Doch so viel sei hier schon verraten: Es wird mehr als eine Hochzeit geben. Die Europäer ist eine leichte, unterhaltsame Lektüre mit genügend Tiefgang. Bei der hier gezeigten Ausgabe handelt es sich um eine Neuausgabe aus dem Jahre 2015 mit einem Nachwort von Gustav Seibt.
Frauen, Fische, Fjorde von Anne Siegel (265 Seiten)
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrscht auf den Höfen Islands akuter Frauenmangel, weil die jungen Isländerinnen lieber in den Städten studieren gehen. In Deutschland hingegen kommen auf einen Mann fünf Frauen. Ausserdem sind Arbeitsplätze rar, Nahrung und Kleidung sowieso. Und so sind Island und Deutschland übereingekommen, deutsche Frauen (und teilweise auch Männer) für die Landarbeit in Island anzuwerben, erst mal für ein Jahr. Viele junge deutsche Frauen haben dieses Angebot mit Handkuss angenommen, um dem kriegsgebeutelten Deutschland zumindest eine Zeitlang zu entkommen und wieder Arbeit zu haben. Die Autorin hat sich mit neun solcher Frauen und einem Mann, die alle in Island geblieben sind, über ihren Neuanfang unterhalten. Die einzelnen Schicksale sind beeindruckend und berührend, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele nicht einmal wussten, wo Island liegt, geschweige denn, was sie dort erwartet. Vermutlich dachten sie einfach: «Alles ist besser als Deutschland.»
Neben den persönlichen Berichten geht es in dem Buch auch um die isländische Geschichte, vor allem vor und während des Zweiten Weltkriegs. Island war das einzige britische Protektorat, das sich den Anordnungen zur Auslieferung deutscher Staatsangehöriger widersetzte. Auch sonst war Island ganz anders als Deutschland; Gleichberechtigung, uneheliche Kinder waren willkommen, die Frauen durften studieren. Im Gegensatz dazu stand die doch eher rückständige Landwirtschaft, die ohne Maschinen und weitgehend ohne Autos auskommen musste. Arbeitstiere und Transportmittel waren die robusten Islandpferde.
Keine kritischen Fragen
Die ersten paar Berichte las ich mit grossem Interesse. Mit der Zeit aber begannen sie sich etwas zu gleichen. Alle Frauen waren ausserordentlich dankbar, fügten sich freudig ein auf zum Teil extrem abgelegenen Höfen ohne Landmaschinen und teilweise ohne fliessend Wasser, ertrugen die langen, harten und dunklen Winter angeblich problemlos, Heimweh oder Einsamkeit waren kein Thema. Dazu heisst es oft nur: «Das machte ihr nichts aus.» Auch die doch recht schwierige Sprache lernten die deutschen Mädchen angeblich erstaunlich schnell. Die Autorin ist Journalistin und liebt Island, was ihr zuweilen vielleicht bei der kritischen, journalistischen Distanz etwas in die Quere kam. Oft kippen die Berichte ins Romanhafte, sind an unnötigen Stellen sehr detailliert erzählt. Die Geschichten der Auswanderinnen liess sich die Autorin von den mittlerweile recht betagten Frauen selber erzählen, und man fragt sich zuweilen, ob das eine oder das andere in der Rückschau nicht etwas verklärt wurde. Kritische Fragen stellt die Autorin keine, zum Beispiel darüber, warum sich die deutschen Frauen häufig mit deutlich älteren Isländern eingelassen haben. Vielleicht hätte es dem Buch gut getan, wenn auch zwei, drei Geschichten aufgenommen worden wären von Frauen, die nach Deutschland zurückgekehrt sind, weil die Integration nicht funktionierte.
Der Untertitel «Deutsche Einwanderinnen in Island» ist etwas irreführend, denn in weiten Teilen des Buches geht es um die Vorgeschichte der Porträtierten, also um den Zweiten Weltkrieg. Da werden die Gräueltaten und Nazi-Schrecken ausführlich geschildert, die Fluchtgeschichten durch Deutschland ziehen sich Seite um Seite hin, die gesamte Flüchtlingssituation wird berichtartig dargelegt, sodass man manchmal fast vergisst, worum es in dem Buch eigentlich geht. Diese Exkurse waren stark überdehnt, nahmen oft mehr als zwei Drittel der einzelnen Schicksale ein, die Integration in Island kam danach eher oberflächlich daher. Dennoch ist es ein lesenswertes, versöhnliches Buch über ein wenig bekanntes Kapitel der Zeitgeschichte, einen jener vielen Nebenschauplätze des Weltkriegs, der vielleicht ein klitzekleines Gleichgewicht darstellte zu all dem Grauen und dem Elend, das Kriege mit sich bringen.
Das grosse Los von Meike Winnemuth (329 Seiten)
Zum Monatsende gab es dann noch ein richtiges Highlight! Dieses Buch ist mir bei einem Büchertausch zugespielt worden, meine Erwartungen waren nicht hoch. Aber Hallo – wie wurde ich positiv überrascht! Meike Winnemuth ist nicht nur eine phantastische Journalistin und Kolumnistin, sie kann auch über sich selber lachen und sowohl tiefgründig als auch äusserst amüsant über das Leben – und in diesem Fall über das Reisen – philosophieren.
Ach ja: Sie hat bei Wer wird Millionär? eine halbe Million gewonnen und sich dann ein Jahr lang jeden Monat in einer anderen Stadt auf dem Planeten niedergelassen. Das erzählt sie so einnehmend und unterhaltsam, dass das Buch bei mir in den Lese-Empfehlungen gelandet ist. Amüsant, anregend, berührend – unbedingt lesen!
Lesemonat Januar 2023 als PDF.
Hallo Sabina
Ich habe mehrere Romane von Juli Zeh gelesen. Aufmerksam wurde ich durch die Gesprächsrunde mit Richard David Precht. Ich gebe zu, dass ich mit „Neujahr“ auch am wenigsten anfangen konnte. Aber „Über Menschen“ hat mir gut gefallen. Evtl. auch, weil die Region nah bei meiner Heimat liegt und ich mich gut hinein versetzen konnte. Vielleicht magst du ihr noch eine zweite Chance geben.
Ansonsten wäre „Ada“ von Christian Berkel noch ein Tipp (falls du es nicht schon gelesen hast)
Liebe Grüsse, Dana
Liebe Dana
Vielen herzlichen Dank für deine Nachricht. Ich denke auch, dass ich Juli Zeh noch eine Chance gebe – danke für deinen Tipp! Du wirst es ja dann in einem der kommenden Lesemonate sehen, wann ich das Buch gelesen habe und wie es auf mich gewirkt hat. Christian Berkel habe ich auch schon versucht (ich glaube es war “Der Apfelbaum”), war aber auch nicht so meins …
Herzliche Grüsse und gut lies,
Sabina