Im Mai hatte ich weniger Zeit zum Lesen als sonst. Einerseits landete sehr viel zusätzliche Arbeit auf meinem Schreibtisch, andrerseits packte mich das erste Buch nicht richtig, weshalb ich insgesamt seltener danach griff und mir die Zeit anders vertrieb. Zum Glück schloss der Monat aber mit einem Highlight ab, das es in die Lese-Empfehlungen schaffte. Die Anzahl gelesene Seiten belief sich auf ca. 650 (leider weiss ich nicht mehr genau, wo ich den Boyle abgebrochen habe, und das Buch ist bereits ausgezogen.)

Die Frauen von T.C. Boyle (560 Seiten)
übersetzt von Dirk van Gunsteren

«Die Frauen» war mein erster Boyle, aber vermutlich nicht die ideale Wahl. In diesem Buch porträtiert Boyle einen weiteren charismatischen Amerikaner; nach Kinsey (Dr. Sex) und Kellog (Wellville) hat er sich der überlebensgrossen Figur Frank Lloyd Wright gewidmet, der sich mitten in der Prärie von Wisconsin mit dem Anwesen Taliesin einen Traum verwirklicht hat. Hier lebte und arbeitete der Architekt mit einer Schar Schüler und seinen jeweiligen Frauen.

Das Buch besteht aus drei Teilen, jeweils mit einer Einleitung des angeblichen Erzählers, einem Japaner, der einige Zeit Wrights Schüler war. Jeder Teil ist einer der drei Frauen gewidmet, die Wrights erster Ehefrau Kitty folgten. Erzählt wird in umgekehrter Chronologie. Im Vordergrund stehen dabei aber nicht Wrights Laufbahn und Erfolge, sondern die Beziehungen zu den Frauen, die alle mit wilden Ehen begannen – Wright war jeweils noch mit der Vorgängerin verheiratet – sowie die moralischen Implikationen, die dies zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte. Die Auswirkungen hatte nicht nur Wright zu tragen, sondern auch die Frauen. Kam hinzu, dass Wright ständig hoch verschuldet und ein selbstgerechter Typ war. Nicht unbedingt ein Sympathieträger also.

Einerseits gelang Boyle mit diesem Buch ein anschauliches Sittengemälde der damaligen Zeit. Andrerseits kommt mit der Zeit eine Art Langeweile auf. Anfangs übt die exzentrische, morphiumsüchtige Mirjam noch eine gewisse Faszination aus mit ihrem unsteten und von Rache besessenem Innenleben. Und natürlich erzählt Boyle mit einer fesselnden Sprache, schafft Bilder, in die man eintaucht und mitleidet, mitschwitzt, mitdurstet etc. Doch mit der Zeit fehlt etwas. Nicht, weil nicht genug passieren würde. Es ist eher die fehlende Entwicklung der Figuren und die nicht vorhandene Dramaturgie. Die Figuren bleiben, wie sie sind, nämlich stark wrightgesteuert. Und was die Dramaturgie angeht, schleicht sich bei all den aneinandergereihten Ereignissen eine Gleichförmigkeit, eine Eintönigkeit ein, es fehlen die Höhepunkte, die Steigerungen, die stillen Phasen. Seite um Seite liest man, welche Rachezüge sich Mirjam als nächstes einfallen lässt und wie es ihr damit ergeht, man liest, wie Wright mit seiner neuen Frau vor ihr flüchtet, wo sie unterkommen, wohin sie als Nächstes reisen usw. usw. Hochdramatische Ereignisse werden im gleichen Stil und Tempo erzählt wie Mirjams nächster Schachzug. Die Fussnoten auf beinahe jeder Seite, die der Erzähler einfügt, fördern den Lesefluss auch nicht unbedingt, seine Einschübe wirken farblos und distanziert. Das alles lässt beim Lesen eine gewisse Ermüdung aufkommen.

Nicht mein letzter Boyle
Wer diese 560 Seiten bewältigen will, muss viel Geduld mitbringen und ein Interesse an Klatsch und Fiesheiten im Stil amerikanischer Fernsehserien haben. Mich haben diese Rachefeldzüge, die Exzentrik der einen und die Ergebenheit der anderen Frau und schlussendlich auch Wrights Selbstgerechtigkeit irgendwann nicht mehr genug interessiert, und so habe ich das Buch abgebrochen. Mit dem Autor habe ich aber noch nicht abgeschlossen. Vielleicht können mir die Boyle-Kenner unter euch eines seiner Bücher empfehlen? Falls ja, freue ich mich über einen Kommentar unten auf der Seite – herzlichen Dank!

Unter den Menschen von Mathijs Deen (192 Seiten)
übersetzt von Andreas Ecke

Dies ist eine Liebesgeschichte. Aber eine schroffe, passend zu dem Landstrich, in dem sie spielt und zu den Menschen, die diesen bewohnen; «Irgendwo weit im Norden steht am Seedeich ein Bauernhof, der wie ein wartendes Arbeitspferd sein Hinterteil dem Meer zuwendet.»

Seit dem Unfalltod seiner Eltern lebt Jan allein auf dem Hof am Rande der Nordsee. Vor allem im Winter hat er oft tagelang nichts zu tun, die Einsamkeit nagt an ihm. Die einzigen menschlichen Kontakte sind die kurzen Gespräche im Dorfladen, dann wieder wochenlang nichts. Jan wünscht sich eine Frau und gibt eine Anzeige auf, Wil sucht ein Haus am Meer und antwortet ihm. Wie zielstrebig sie vorgeht, zeigt schon die Tatsache, dass sie die anderen Briefe an Jan vernichtet hat, denn sie arbeitet in der Anzeigenabteilung der kleinen Zeitung, in der Jan seine Annonce aufgegeben hat.

Jan und Wil sind nicht gerade füreinander geschaffen, jeder trägt schwer an seiner eigenen Geschichte, stolpert über sein eigenes Ziel. Wär da nicht der Hunger nach Nähe, würde wohl keiner von ihnen den nächsten Schritt tun. Ungeübt im Reden und in der Empathie fügen sie sich Verletzungen zu, über die nicht geredet wird. Unausgesprochenes und Schweigen spielen eine grosse Rolle. Und während die Zeit langsam durch die Tage plätschert, kommen alte Verletzungen, Hemmungen und existenzielle Fragen hoch.

Spröde mit gelungenen Metaphern
Die Sprache, in der der Autor das Zusammentreffen der beiden beschreibt, ist ebenso spröde wie die Figuren selber, die Erzählweise so geradlinig wie die Furchen auf dem Kartoffelacker, die düstere niederländische Polderlandschaft ein perfekter Spiegel des Innenlebens der zwei Figuren. Wenn zum Beispiel Wil im Frühjahr die zarten Triebe der gesetzten Kartoffeln durch den schweren Boden spriessen sieht und sie am liebsten mit ihrem Absatz zurück in die Erde gestampft hätte, ist das eine gelungene Beschreibung ihres Gemütszustandes. Wobei ich Wil – die gar nicht so heisst – beim Lesen weniger nahe gekommen bin als Jan. Dass die beiden auch ein Herz haben, kommt genauso langsam und mühsam zum Vorschein wie die kleinen, empfindlichen Pflänzchen auf den Äckern.

Deen spricht auch grundsätzliche Fragen einer Paarbeziehung an: Ist Liebe zum Partner wirklich unabdingbar für das Glück zu zweit? Wie viel muss man sagen, wie viel verschweigen? Darf man mit einer Lüge beginnen? Insgesamt ist das Buch eine lesenswerte, wenn auch nicht umwerfende Lektüre, die man mit ihren nur 192 Seiten auch mal an einem Wochenende bewältigen kann.

I am, I am, I am von Maggie O’Farrell (290 Seiten)
Deutscher Titel: Ich bin, ich bin, ich bin, übersetzt von Sabine Roth

Endlich mal wieder ein Buch, das mich umgehauen hat! Schriftstellerin Maggie O’Farrell legt hier ihre Memoiren vor; ungewöhnlich gut, ungewöhnlich aufgebaut und ungewöhnlich in der Wahl des roten Fadens – ihre siebzehn Begegnungen mit dem Tod. Was depressiv oder beängstigend hätte werden können, ist eine Hymne an das Leben, beeindruckend, lebensbejahend und unvergesslich. Und grossartig geschrieben. Hier geht es zur ausführlichen Lese-Empfehlung.

 

P.S. Mein Stephen-King-Experiment habe ich übrigens abgebrochen. Geschichte Nr. 3 habe ich schon als Film gesehen (Stand by Me), und die vierte rutschte dann doch wieder in das Horror-Genre ab. Schade, denn schreiben kann er.

Lesemonat Mai 2022 als PDF.

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Comments

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