Immer wieder diskutieren Leser und Leserinnen darüber, ob man ein Buch überhaupt bewerten kann, wenn man es abgebrochen hat. Ihr Argument: Manchmal “wird es dann besser” oder es zeigt sich erst am Schluss, worauf die Geschichte hinauslief oder wie genial der Autor, die Autorin sie aufgebaut hat. Mag sein. Mag auch sein, dass ich durch meine Lese-Abbrüche so den einen oder anderen tollen Switch am Ende verpasst habe. Allerdings lese ich nach der Devise: Wenn mich eine Geschichte nicht durch die Seiten zu tragen vermag, mich mit irgendetwas bei der Stange halten kann, dann verzichte ich gerne auf was auch immer mich da am Ende erwarten soll. Bei der Bewertung fehlt mir dieser Schluss dann zwar, doch ein Buch lebt nicht vom Ende allein, oder? Und so erlaube ich mir, auch in diesem Monat zwei Bücher zu bewerten, die ich abgebrochen habe. Und natürlich die beiden, die ich fertig gelesen habe. Insgesamt kam ich dabei trotz Abbrüchen auf 863 Seiten.

Das Siebte von Tristan Garcia (250 Seiten)
übersetzt von Birgit Leib

Wer hat sich nicht schon mal gewünscht, mit dem Wissen eines Erwachsenen nochmals jung zu sein? Das geschieht dem Ich-Erzähler in diesem Roman: Sieben Mal wird er in dem Moment, in dem er stirbt, wieder geboren. Immer in die exakt gleichen Umstände, an denselben Ausgangspunkt, mit der ganzen intakten Erinnerung an seine bisherigen Leben. Neue Runde, neues Glück also. Im Alter von sieben Jahren bekommt er jeweils ein derart starkes, nicht zu stoppendes Nasenbluten, dass er nach Paris ins Krankenhaus gebracht wird und dort Fran trifft, der ein wundersames Mittel zur Blutstillung besitzt. Dieser Fran scheint ihn erwartet zu haben und behauptet, dass der Ich-Erzähler unsterblich sei. Zwischen den beiden entwickelt sich in allen sieben Leben eine Freundschaft, auch liebt der Ich-Erzähler immer wieder die gleiche Frau namens Hardy. Aber jedes Leben verläuft grundverschieden.

Eigentlich eine tolle Ausgangslage für eine gute Geschichte, zumal der Autor Philosoph ist. Dieser zeichnet allerdings ein sehr pessimistisches Bild. Nicht nur, dass der Protagonist jedes Mal wieder neu laufen und sprechen lernen muss, was ihm zuerst langweilig und später unerträglich erscheint. Er scheitert auch immer wieder darin, die unwirtlichen Verhältnisse der Gesellschaft, in der er lebt, ändern zu wollen; als Beamter, als Nobelpreisträger, als Guru, als Schriftsteller und auch als Allmächtiger. Anfangs ist man als Leser noch gespannt, was er beim zweiten, dritten oder vierten Versuch besser macht und wie die Beziehung zu Hardy und zu Fran verläuft. Mit der Zeit aber fühlt sich das an, als lese man sieben einzelne Geschichten, die sich mitunter in ermüdendem und altbekanntem Philosophieren und in Sozialkritik verlieren, ohne dem Leser dabei eine passable Entwicklung der Figur zu bieten. In keinem seiner Leben, mit keiner seiner Haltungen oder Erfahrungen wird dieser verloren wirkende Untote die Welt verändern oder selber glücklich werden. Auch dann nicht, als er als Wissenschaftler seine Unsterblichkeit erklären kann. Sein Fazit: «Am Ende, selbst wenn ich die Revolution machte, würde letztlich doch wieder alles auf null zurückgesetzt.»

Diese zusehends ermüdende und zuweilen absurde Geschichte bietet lediglich recht lose, um nicht zu sagen nutzlose Erkenntnisse wie etwa diese: «Das Einzige, was zählt, ist das erste Mal.» Der Protagonist scheitert wieder und wieder, bleibt im Grunde aber immer derselbe. Und so liess ich ihn irgendwann alleine scheitern und wandte mich dem nächsten Buch zu.

China Dolls von Lisa See (418 Seiten)

Manchmal kann ich es (fast) nicht glauben, dass eine Autorin, von der ich zwei wirklich tolle Bücher gelesen habe, nun so ein schlechtes Buch geschrieben haben soll. Wie geht das?

Von Lisa See las ich zuerst Snow Flower and the Secret Fan (Der Seidenfächer) und einige Jahre später Peony in Love (Eine himmlische Liebe). Von beiden Büchern war ich begeistert. Nun habe ich mir China Dolls bestellt, weil mich die ersten paar Seiten sofort wieder in dieses Gefühl von damals versetzt haben; abtauchen in eine andere Welt, eine andere Zeit, in eine zauberhafte Atmosphäre, in das Innenleben der Figuren. Aber schon nach wenigen Seiten verflog dieses Gefühl, der Stil änderte sich abrupt. Dieses Buch ist so schlecht geschrieben, dass ich tatsächlich bezweifle, dass es aus Lisa Sees Feder stammt.

Drei junge Chinesinnen lernen sich 1938 in San Francisco kennen. Zwei von ihnen suchen einen Job an der Weltausstellung, die dritte lebt in einer sehr traditionellen und einflussreichen Familie in Chinatown. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, was ich eigentlich gerne mag. In diesem Fall sind die drei jungen Frauen aber dermassen flach und ohne Tiefe dargestellt, dass ich immer wieder nachschauen musste, welche denn jetzt gerade erzählt. Die Handlung wird erzählt, als müsse sie auf einer Checkliste möglichst schnell abgehakt werden, die Dialoge sind trivial und voller Infodump, es fehlt jegliche Atmosphäre, und vieles ist unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar. Das ist alles so weit weg von dem, was ich bisher von Lisa See kenne, dass ich nach 53 Seiten völlig enttäuscht abgebrochen habe. Die beiden oben erwähnten Bücher von der Autorin kann ich sehr empfehlen, das hier aber nicht. Und mit dieser Erfahrung werde ich wohl auch keine anderen mehr von Lisa See lesen. Schade.

Habt ihr auch schon so frappante Unterschiede bei einem Autor oder einer Autorin erlebt? Schreibt es mir doch sehr gerne in die Kommentare!

Du bist der Hammer von Jen Sincero (304 Seiten)
übersetzt von Elisabeth Schmalen

Ich habe ja schon einige Ratgeber oder Selbsthilfe-Bücher gelesen, aber noch nie habe ich dabei so viel gelacht. Schon alleine der Schreibstil von Jen Sincero ist es wert, dieses Buch zu lesen. Ich habe das Buch allerdings auf englisch gelesen – You are a bad ass – und habe alle paar Seiten mitfühlend an die Übersetzerin gedacht; das war sicher kein leichter Job …

Der Untertitel lautet «Hör auf, an deiner Grossartigkeit zu zweifeln und fang an, ein fantastisches Leben zu leben.» Hat man auch schon oft gehört oder gelesen. Und auch einiges, was Jen Sincero in ihrem Buch bespricht, ist nicht neu. Aber, abgesehen von der ganz anderen Art, WIE sie das rüberbringt, gab es für mich doch einige neue und wertvolle Erkenntnisse.

Das grosse Plus dieses Buchs ist eindeutig die Art und Weise, wie Sincero die Materie anpackt. Wo andere Autoren gurumässig daherkommen, ist sie sich nicht zu schade, ehrlich, geradeheraus und teilweise erfrischend schnoddrig von sich selber zu erzählen, von ihren Ausreden, warum sie sich eben von einem schlechten Job zum nächsten hangeln muss und warum ihr Auto beinahe auseinanderfällt und sie sich kein neues leisten kann. Sie kennt all die Ausreden, sie weiss genau Bescheid über die Komfortzone, über den inneren Schweinehund, über Ängste, Prägungen, Glaubenssätze etc. «She’s been there», und deshalb schaut sie auch nicht von oben auf den Leser herab – sie weiss genau, wie schwierig einem das Ganze manchmal erscheint, wie angsteinflössend es ist, sich auf den Weg zu machen. Aber hey – sie hat es auch geschafft, also!

Schema F ade!
Auch das Schema F sucht man in diesem Buch vergeblich. Mit viel Selbstironie und Mitgefühl bringt Sincero die Dinge auf den Punkt. Am Ende jeder «To do»-Liste wiederholt sie: Love yourself, jeweils mit einem Zusatz, zum Beispiel «Because it’s the Holy Grail of happyness» oder «No matter what anyone else thinks» oder «No matter who you really are» (!) oder «Unless you have a better idea».

Bekannten Methoden verleiht sie teilweise einen neuen Twist. Ein Beispiel: Jeder von uns hat eingeprägte Muster, unter denen er oder sie leidet. Sagen wir mal, jemand findet keinen passenden Partner. Wird in anderen Ratgebern eher darauf herumgeritten, woher diese Muster stammen und wie man sie mit Gegenaffirmationen überschreiben soll, fordert einem Sincero auf herauszufinden, was einem diese Muster denn bringen. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Wenn man keinen Partner findet, muss man sein Herz nicht öffnen, sein Bett nicht teilen, sich nicht anpassen etc. etc. Mit diesen Erkenntnissen wird man vom Opfer zur Handelnden und nimmt damit dem «Schicksal» das Heft aus der Hand. Bingo!

Fazit: Du bist der Hammer ist nicht nur der unterhaltsamste und witzigste Ratgeber, den ich je gelesen habe, sondern auch der ehrlichste, überzeugendste und motivierendste. Oder um es im Stile von Sincero zu sagen: It’s the necessary kick in the ass.

Sturmhöhe von Emily Brontë (413 Seiten)
übersetzt von Johannes F. Boeckel

Ich war der Meinung, ich hätte das Buch vor vielen Jahren schon einmal gelesen, aber als ich diesen Klassiker jetzt erneut zur Hand nahm, bezweifelte ich es, denn nach einer solchen Geschichte hätte es mich sicher nicht ein zweites Mal verlangt. Denn ja: Sturmhöhe (im Orginal Wuthering Heights) ist ein Klassiker, und der Schreibstil der Autorin ist präzise und fesselnd, so dass er einem sicher durch die Handlung trägt. Aber die Geschichte selbst …

Sie spielt Ende des 18. Jahrhunderts in der rauen Landschaft des englischen Yorkshire auf den beiden Anwesen Wuthering Heights und Thrushcross Grange. Der Besitzer von Wuthering Heights, der herzensgute Mr. Earnshaw, kommt eines Tages mit dem Findling Heathcliff aus der Stadt zurück, der fortan von seinem eigenen Sohn Hindley verabscheut und traktiert, von seiner Tochter Cathy aber heftig geliebt wird. Auch Heathcliff ist besessen von Catherine. Doch als diese Jahre später den bürgerlichen Nachbarn Edgar heiratet, bricht sie ihm das Herz. Er verschwindet, kehrt einige Jahre später zurück, die Taschen voller Geld und das Herz voller Rachegedanken. Nun entspinnt sich ein Geflecht aus Hass, Verrat, Leiden, Demütigung, unerwiderter Liebe, Krankheit und Tod. Die Stimmung ist düster, intensiv und verstörend. Erzählt wird grösstenteils aus der Sicht der Haushälterin, die die Geschichte über zwei Generationen dem Pächter von Thrushcross Grange, Mr. Lockwood, berichtet, als dieser nach seinem Antrittsbesuch und einer schrecklichen Nacht auf Wuthering Heights einen kalten, langen Winter krank ans Bett gefesselt ist.

Wie gesagt: Sturmhöhe ist ein sehr gut erzählter ein Klassiker. Aber es ist eine Geschichte mit wenig Hoffnung oder Verständnis, dafür mit viel Zwietracht und Hass. Die meisten Figuren sind traurig, hoffnungslos, schicksalsergeben oder todunglücklich. Heathcliff ist derart verstörend, grausam und rachsüchtig, dass man nur schwer mit ihm mitfühlen kann. Selbst die beiden Catherines sind ziemlich nervig und ich-bezogen. Und was die «Liebe» der zweiten Generation angeht, so scheint mir diese doch sehr erzwungen zu sein. Gestolpert bin ich auch – Achtung Spoiler! – über die Tatsache, dass nach dem Tod der ersten Catherine plötzlich eine Tochter von ihr da war. Dass sie schwanger war, habe ich nicht mitbekommen …

Sturmhöhe ist definitiv ein Roman über die Abgründe der menschlichen Psyche, diese und deren schreckliche Folgen sind eindrücklich dargestellt und gewinnend erzählt. Aber Klassiker hin oder her: Im Grunde ist es eine schreckliche, deprimierende Geschichte.

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Comments

Lesemonat Juni 2022 — 3 Comments

  1. Pingback:Die Bücher im Juni - Welt des Schreibens

  2. China Dolls war enttäuschend, trotzdem habe ich durchgehalten. Bis zum Schluss habe ich vor und zurückgeblättert. The Tea Girl of Hummingbird Lane, Dragon Bones, The Island of Sea Women von ihr, fand ich inspirierend -> Eintauchen in fremde Kulturen.

    Wuthering Heights fand ich deprimierend, weil es den Zeitgeist des
    19. Jahrhunderts widerspiegelt.

    Liebe Grüsse
    Susanne

    • Liebe Susanne
      Vielen Dank für deine Rückmeldung und deine Empfehlungen! Ich habe gesehen, dass ich von Lisa See noch “Shanghai Girls” im Regal stehen habe – werde es damit nochmals versuchen. Aber auch deine Empfehlungen klingen vielversprechend.
      Wuthering Heights ist tatsächlich eine düstere Geschichte. Da gebe ich mich dem Zeitgeist doch lieber in den Büchern von Jane Austen hin. 😉
      Ich wünsche dir einen tollen Lesesommer,
      herzlich, Sabina

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