«Ich kaufe Bücher nicht, weil ich sie alle benötige, sondern weil ich mir ausmale, wie herrlich es sein wird, sie demnächst – sagen wir eines Tages, zu lesen.» (Durs Grünbein)
Ich weiss zwar nicht, wer Durs Grünbein ist, aber er (oder sie?) spricht mir so richtig aus dem Herzen! Mein Bücherregal ist nämlich vor allem eins: verheissungsvoll (man erinnere sich: Dort stehen zum grössten Teil noch ungelesene Bücher). Noch verheissungsvoller ist es geworden, seit ich meine Lesemonate unter bestimmte Themen stelle, denn nun stehe ich öfters als sonst davor und schneugge in den Klappentexten, erwäge, welchem Thema ich welches Buch zuordnen kann. Und das lässt die Vorfreude grad noch ein wenig grösser werden.
Das Thema des Lesemonats November lautete «Schnee», und trotz zweier abgebrochener Bücher knackte ich auch diesen Monat die Tausendergrenze; insgesamt vier Bücher resp. 1087 Seiten sind es geworden.
Später Schnee von Martin Gülich (160 Seiten)
Martin Gülich war Dozent an der Montségur-Akademie, die ich vor einiger Zeit absolviert habe. Er betreute das Modul «Sprache und Stil», er tat dies gekonnt und mit sehr viel Gespür. Seine Bücher sind denn auch sprachlich ganz wunderbar. Er erzählt scharfsichtig, tiefsinnig lapidar, geschliffen und konsequent, ironisch aber auch liebevoll. Was mir an seinen Romanen aber leider missfällt, sind die Figuren. Und bei dem einen Roman von ihm, den ich zu Ende gelesen habe, auch der Schluss. Ich mag keine offenen Enden, und in diesem Fall fühlte ich mich gar ein wenig «im Regen stehen gelassen».
In Später Schnee folgen wir einem männlichen Ich-Erzähler, der die 40 überschritten hat, mit einem passablen Erbe ausgestattet ist und nicht mehr arbeiten muss. Sein Alltag ist ereignislos, um nicht zu sagen langweilig, er verbringt die Zeit mit Kegelabenden, Restaurant- oder Zoobesuchen etc. etc. In jedem Kapitel lernen wir einen neuen Bekannten kennen, erfahren dies oder jenes über die Vergangenheit des Ich-Erzählers und seine Beziehung zu dem jeweiligen Bekannten. Der Erzähler beobachtet, spinnt Geschichten und führt seine Bekannten auch schon mal an der Nase herum, indem er zum Beispiel einen Leberkrebs erfindet und behauptet, er habe nur noch vier Wochen zu leben. Und dann genussvoll beobachtet, wie die Menschen reagieren. Die Geschichte entwickelt sich langsam, etwas zu spannungslos für meinen Geschmack.
Annegret und Boston
Irgendwann taucht dann Annegret auf, die glaubt, mit dem Ich-Erzähler eine aufregende Begegnung in Boston gehabt zu haben, und natürlich erwacht in ihm der bislang erfolgreich bekämpfte Wunsch, noch einmal lieben zu können. Gleichzeitig nistet sich Kegelbruder Hartmann bei ihm ein, da er angeblich sein Zuhause durch eine Gasexplosion verloren hat. Der Ich-Erzähler möchte das nicht, kann aber nicht Nein sagen, und so verliert er langsam die Kontrolle über sein Leben.
Genau das mag ich nicht an Gülichs Figuren. In allen drei Romanen, die ich kenne, geht es um Männer, denen das Leben entgleitet, weil sie nicht für sich einstehen, nicht Nein und Stopp sagen, sondern sich manipulieren, ausnützen oder irreführen lassen, und zwar nicht selten wissentlich. Sie scheinen zu hoffen, dass der Spuk schon von alleine wieder vergeht, wenn sie nur lange genug mitspielen. Ist aber nicht so, und vor allem im Roman Septemberleuchten nimmt das grauenhafte Formen an. Solche Figuren interessieren mich einfach nicht. Ich habe kein Interesse, ihrem selbstverschuldeten «Niedergang» zu folgen, nur weil sie nicht den Mut oder das Rückgrat haben, für sich einzustehen oder einen Konflikt auszutragen. Daher habe ich dieses Buch nach sechzig Seiten abgebrochen. Wer sich aber für solche Figuren interessiert und daran, wie Gülich das erzählt und aufbaut, kann an diesem Buch sicher seine Freude haben, denn sprachlich überzeugt es.
Das Schneemädchen von Eowyn Ivey (460 Seiten)
übersetzt von Claudia Arlinghaus, Margarete Längsfeld und Martina Tichy
Das Schneemädchen ist das Erstlingswerk von Eowyn Ivey und mutet feenhaft an, bewegt sich die Erzählung doch auf einem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Die Geschichte spielt im Alaska der 1920er Jahre. Mabel und Jack, ein nicht mehr ganz junges Ehepaar, ziehen sich nach dem Verlust ihres ungeborenen Kindes in die Wildnis von Alaska zurück, da sie es in der zivilisierten Welt von Pennsylvania, wo es in ihrer beider Familien nur so von Kindern wimmelt, nicht mehr aushalten. Sie haben all ihr Geld und ihre Hoffnungen in eine kleine Farm gesteckt. S. 9: «Mabel hatte gewusst, es würde still sein. Darum war es ihr ja gegangen. … Sie hatte sich die Stille in der Wildnis Alaskas friedlich vorgestellt wie nächtliches Schneegeriesel, die Luft lautlos, aber voller Verheissung, doch so war sie nicht.»
Vieles ist nicht so, wie es sich die beiden vorgestellt haben, vor allem Mabel setzen die langen, dunklen Winter zu, und das Buch beginnt damit, dass sie sich das Leben nehmen will, indem sie sich auf das Eis des Flusses stellt und damit rechnet, dass es bricht und der eisige Fluss sie mit sich reisst. Aber das Eis trägt sie. S. 15: «Flussaufwärts erstreckten sich Weidengestrüpp und Kiesbänke, Fichtenwälder und in den Niederungen Pappelhaine stahlblau bis hin zu den Bergen. Keine Felder oder Zäune, Häuser oder Strassen; nicht ein einziges Lebewesen, so weit sie sehen konnte. Nur Wildnis. Sie war schön, das war Mabel bewusst, aber von einer Schönheit, die einen aufriss und blankscheuerte, sodass man hilflos und schutzlos war, sofern man überhaupt am Leben blieb. Mabel kehrte dem Fluss den Rücken und ging nach Hause.»
Im Übermut entstanden
Im harten Kontrast zu der bezaubernden Szenerie steht das harte, einsame Leben, für das das nicht mehr junge Paar im Grunde nicht geschaffen ist. Sie reden nicht viel, streiten sich aber auch nicht, und dann und wann erwacht eine längst vergessene Stimmung von Verbundenheit zwischen ihnen. Eines nachts, als der erste Schnee fällt, bauen sie im Übermut ein Schneemädchen. Jack modelliert das Gesichtchen, Mabel kleidet das Schneemädchen mit einem roten Schal und roten Fäustlingen ein. Am nächsten Tag sind die beiden Sachen verschwunden, und Mabel erinnert sich an ein russisches Märchen aus ihrer Kindheit, in dem ein Schneemädchen lebendig wurde. Als dann noch ein feenhaftes, blondes Mädchen zwischen den Bäumen am Waldrand auftaucht, fragt man sich, ob dieses Mädchen der Sehnsucht der beiden entspringt oder tatsächlich existiert. Gekonnt bewegt sich die Geschichte nun auf der schmalen Linie zwischen Fantasie und Realität, zwischen Sehnsucht und Vernunft, zwischen Tatsachen und Möglichkeiten. Mehr möchte ich zur Handlung nicht verraten.
Die ersten drei Viertel dieses Buches fand ich ganz zauberhaft. Die Wildnis von Alaska als Schauplatz ist fantastisch und atemberaubend. Die Naturbeschreibungen sind poetisch, die Figuren in ihrer Mischung aus Tiefgang und Skizzenhaftigkeit faszinierend und zutiefst menschlich, und wie Mabel und Jack mit ihrer Kinderlosigkeit umgehen, ist zeitweise tieftraurig. Lebensnah bekommen wir mit, was es heisst, in einer derartigen Gegend auf sich allein gestellt zu sein; wenn etwa Jack auf dem Feld verunglückt und Mabel ihn bei Einbruch der Dunkelheit findet und irgendwie ins Haus schaffen muss, nur um am nächsten Tag zu erfahren, dass es im nächsten Städtchen keinen Arzt gibt. «Entweder es heilt, oder es heilt eben nicht», bekommt sie dort zu hören. Aber wir erleben auch freundschaftliche Unterstützung von der am nächsten wohnenden Familie, mit der das Ehepaar zarte Band knüpft. Im letzten Viertel konnte mich die Geschichte nicht mehr ganz so sehr fesseln und es gab einige erzähltechnische Mängel, wenn zum Beispiel ein Sinneswandel eingeleitet wird, der im weiteren Verlauf der Geschichte plötzlich wieder verschwunden ist. Auch der Zeitsprung von sechs Jahren warf mich etwas aus der Handlung. Dennoch habe ich dieses Buch genossen, ich bin in die Wildnis Alaskas und in die Geschichte vom Schneemädchen eingetaucht und habe immer wieder fragend zum Himmel hinauf geschaut, wann denn jetzt der erste Schnee dieses Winters herunterschwebt.
PS: Auch bei diesem Verlag scheinen die Bindestriche knapp geworden zu sein, so dass man sie sich nur noch im Text, nicht aber auf dem Cover leisten kann.
Schnee in Amsterdam von Bernard MacLaverty (284 Seiten)
übersetzt von Hans-Christian Oeser
Bernard MacLaverty hat schon einige Bücher geschrieben, eines seiner berühmtesten ist Cal. Ich habe bisher noch nichts von ihm gelesen. In Schnee in Amsterdam möchten Stella und Gerry ihren Ruhestandsalltag in Glasgow unterbrechen und etwas für ihre Ehe tun. Doch in den vier Tagen treten tiefe Risse in ihrer Beziehung zutage. Ausserdem soll Stella einen ganz anderen Plan verfolgen.
Soweit die Ausgangslage, und die klang auch sehr interessant. Ich merkte aber bald, dass ich mit dem Buch nicht viel anfangen konnte. Zum einen sind da die Figuren. Gerry ist Alkoholiker und versucht, es vor seiner Frau zu verstecken. Diese tut so, als merke sie es nicht, oder sie verdrängt es tatsächlich. Die Interaktion zwischen den beiden ist gähnend langweilig, es herrscht nicht mal die kleinste Spannung. Das ist leider auch zum Lesen ziemlich langweilig. Und ich muss auch nicht wissen, auf welchen Teil der Toilettenschüssel Gerry zielt, wenn er uriniert (das kommt mehr als einmal vor …). Zum anderen fand ich die Sprache überhaupt nicht ansprechend. Ich empfand den Umgang mit ihr unachtsam, unsorgfältig fast. Stella zum Beispiel geht in Amsterdam alleine auf Erkundungstour, kommt zu einer Art Kloster. Dort «… spazierte sie umher und genoss die begrünte Fläche.» Ein paar Zeilen weiter unten «… wurde sie sich der roten Welt hinter ihren Augenlidern inne.» Liegt vielleicht teilweise auch an der Übersetzung, aber auf mich wirkte es schludrig und in keinster Weise einnehmend.
Wie die Geschichte weitergeht, weiss ich leider nicht, denn ich habe auf Seite 57 abgebrochen. In den Rezensionen las ich, dass Stella sehr christlich ist und offenbar in Amsterdam eine Entscheidung trifft. Wer’s wissen will, muss selber lesen. 😉
Schnee, der auf Zedern fällt von David Guterson (510 Seiten)
übersetzt von Christa Krüger
Diese Geschichte von David Guterson – sein Debüt, mit dem er sogleich den Durchbruch schaffte – sah ich zuerst als Film (empfehlenswert, mit Ethan Hawke in der Hauptrolle). Später kaufte ich mir das Buch, begann es zu lesen, brach es ab (warum weiss ich nicht mehr). Nun nahm ich es wieder zur Hand, und diesmal hat es mich gepackt. Es ist ein Buch, dem man Zeit geben muss – also passend für lange Winterabende oder freie Tage zur Jahreswende.
Die Rahmenhandlung ist eine Gerichtsverhandlung (ich liebe Gerichtsverhandlungen mit ihren Kreuzverhören und Plädoyers!) im Jahre 1954. Der japanische Lachsfischer Kabuo Miyamoto wird auf San Piedro, einer fiktiven Insel im Pudget Sound des Bundesstaates Washington, des vorsätzlichen Mordes an seinem deutschstämmigen Jugendfreund und Fischerkollegen Carl Heine angeklagt. Die Indizien belasten ihn, doch die Beweise fehlen. Protagonist ist aber nicht der Angeklagte, sondern Ishmael Chambers, der die kleine Inselzeitung von seinem Vater übernommen und im Krieg nicht nur einen Arm, sondern auch das Herz seiner japanischen Jugendliebe Hatsue verloren hat, der heutigen Ehefrau des Angeklagten.
Mit diesem Setting führt uns der Autor nicht nur in die Geschichte einer unerfüllten Liebe, sondern auch in ein dunkles, weitgehend unbekanntes Kapitel der amerikanischen Geschichte. Schon seit mehreren Generationen lebten Menschen japanischer Abstammung auf der Insel und haben Seite an Seite mit den weissen Bewohnern (die meisten selber Einwanderer) auf den Erdbeerfeldern gearbeitet oder eben gefischt. Es gab sogar scheue Freundschaften, und in Ishmael und Hatsues Fall eine Liebschaft, die aber geheim gehalten werden musste. Und dann kam der Krieg. Plötzlich schlugen die Vorbehalte, die die Weissen den Japanern gegenüber hegten, in Skepsis und Hass um. «Schliesslich war Krieg, und das änderte alles.» Der Angriff auf Pearl Habor wurde den Japanern in Amerika dann vollends zum Verhängnis: Die amerikanische Regierung liess alle Bürger japanischer Abstammung kurzerhand internieren.
Der Sündenbock steht von Anfang an fest
Diese Passagen erzählt Guterson zwischen den Szenen im Gerichtssaal, in dem es viel zu heiss ist, in dem irgendwann der Strom ausfällt aufgrund des Schneesturms, in dem die Japaner wie von selbst zuhinterst im Saal Platz nehmen und in dem natürlich ausschliesslich Weisse auf der Geschworenenbank sitzen. Von Anfang an ist klar, wer hier der Sündenbock sein soll, wie die Vorurteile – und vielleicht auch Rachegelüste – die Sorgfalt bei der Beurteilung verwischen, wenn zum Beispiel Blut der gleichen Blutgruppe, wie Carl Heine sie hatte, plötzlich zu «Carl Heines Blut» wird.
Auch Ishmael sitzt im Gerichtssaal, er lebt seit dem Krieg zurückgezogen, hat sein Herz verschlossen. Aber dass hier der Mann seiner grossen Liebe auf der Anklagebank sitzt, lässt seine Erinnerungen und Hoffnungen aufbrechen. Eine innere Unruhe treibt ihn dazu zu ermitteln, und fast wie nebenbei entdeckt er etwas … Doch nicht nur Ishmael arbeitet im Verlauf des Prozesses seine Vergangenheit auf, auch die Vergangenheit der anderen Insulaner wird durch die Befragungen vor Gericht oder durch Rückblenden aufgedeckt und bringt ein immer engeres Netz an Verstrickungen, Zusammengehörigkeit, Missverständnissen, Vorurteilen und Loyalität zum Vorschein.
Vielschichtig und unaufdringlich
David Guterson lässt sich Zeit beim Erzählen, gibt den Personen Raum, sich zu entwickeln, schildert sie stimmig und einfühlsam. Er beschreibt die Natur genauso tiefgründig wie die inneren Konflikte der Charaktere, verbindet gekonnt Historisches mit Privatem. Dabei verheddert er sich dann und wann in Nebensächlichkeiten, erzählt etwas zu detailliert und minutiös. Dennoch schafft er eine wunderbare Atmosphäre, vor allem an den Tagen der Verhandlung, wenn das Städtchen im Schnee versinkt.
Schnee, der auf Zedern fällt ist ein vielschichtiger, virtuos unaufdringlich erzählter Roman, der, ohne es offensichtlich zu beabsichtigen aufzeigt, was Vorurteile anrichten können, was Kriege mit den Menschen machen, aber auch, dass man durch Liebe – auch unerwiderte – über sich selbst hinauswachsen kann.
Lesemonat November 2022 als PDF.
Liebe Sabina
Laverty und Gutersohn habe ich beide gelesen, beide auf Englisch. Letzteren vor vielen Jahren, und deine Besprechung hat mich daran erinnert, dass mir die Lektüre damals sehr gefallen hat und ich das Buch seit langem nochmals lesen wollte (wenn es doch bloss nicht so viel Neues auf meinem Büchertisch gäbe.. :)) Laverty las ich vor etwa drei Jahren, anders als dich hat mich das Buch überzeugt, auch wenn der Schluss – Stella beschliesst, sich einer religiösen Gruppe anzuschliessen – schon etwas hart einfährt. Die Winterkälte in Amsterdam als Metapher für die Kälte zwischen dem Ehepaar – das zieht sich unheimlich durch und hat mich wie gesagt sehr überzeugt. Aber es ist nicht ein besonders aufbauendes Buch – das tatsächlich nicht.
Danke und herzliche Grüsse
Gerlinde
Liebe Gerlinde
Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Ich kenne das mit dem nochmaligen Lesen; auch ich tue das nur selten, weil meine Wunschleselisten lang und länger werden. Aber bei manchen Büchern lohnt es sich, weil man sie je nachdem nochmals als ganz neu empfindet – vor allem, wenn das erste Lesen schon längere Zeit zurückliegt.
In diesem Sinne wünsche ich dir eine erfüllende Lektüre, egal ob mit neuen oder mit schon einmal gelesenen Büchern!
Herzlich,
Sabina
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