Liebe Literaturfreunde, liebe Bücherliebhaberinnen

Wieder einmal stand ich vor meinem liebsten Möbelstück und liess meinem Blick über die zahlreichen, nach Farben geordneten (!) Buchrücken schweigen. Die bereits gelesenen Bücher liessen mein Herz kurz vor Freude hüpfen – würden sie das nicht tun, würden sie nicht hier stehen – und die ungelesenen versetzten mich in eine Mischung aus Vorfreude und einem leichten Hauch von Stress: Welches, um Himmelswillen, soll ich als nächstes lesen? Keine leichte Entscheidung, machen die ungelesenen Bücher doch rund drei Viertel meines gesamten Regalinhalts aus. Dass mir in dem Moment auch noch die beiden jeweils über hundert Bücher umfassenden «Möchte-ich-lesen-Listen» – eine bei meiner Bibliothek und eine bei meinem Lieblingsbuchhändler – einfielen, machte die Sache auch nicht einfacher. Ich zog willkürlich ein Buch aus dem Regal, blätterte, las ein paar Sätze, stellte es wieder zurück. Nahm das nächste, dann das nächste – und so weiter und so fort …

Aber dann hatte ich eine Idee, und kaum hatte diese die Form eines konkreten Gedankens angenommen, sprudelte es in meinem Kopf schon vor Umsetzungsmöglichkeiten. Dabei war die Idee ziemlich simpel, jetzt, wo sie mir eingefallen war: Ich werde ab sofort jedem Lesemonat ein Thema geben und danach die Bücher aussuchen! Also griff ich nach dem erstbesten ungelesenen Buch in meiner Reichweite – das sollte das Thema für den ersten thematischen Monat liefern. Es war «Ein Brief im Taxi» von Louise de Vilmorin. Jetzt, wo ich das schreibe, fällt mir auf, dass das Thema genauso gut «Taxi» hätte sein können, aber zu dem Zeitpunkt war es eindeutig der Brief. Also hiess das Thema für den Oktober «Briefe». Erstaunlich, wie viele Bücher mit diesem Thema schon im Regal oder auf meinen Listen standen. Eines bekam ich noch ausgeliehen – ohne dass die andere Person von meinem Thema wusste. Noch erstaunlicher war, dass sich in vier von den sechs gelesenen Büchern ein anderes gemeinsames Thema fand: der Zweite Weltkrieg. Der Monat war ergiebig, nur ein Buch gefiel mir nicht. Eines war ein «Re-read», und eines, ein kleines, dünnes, war einfach umwerfend. Insgesamt las ich 1299 Seiten, und das ist – tata! – ein neuer Rekord!

Mittlerweile sind weitere Lesemonat-Themen nur so aufs Papier geflossen – sie reichen bereits für zwei Jahre! 😉 Der November ist dem Thema Schnee gewidmet – mal schauen, ob es nützt und er uns im Flachland noch vor dem Monatsende besucht … Doch nun wünsche ich erstmal viel Spass bei den Brief-Büchern und freue mich wie immer über Kommentare – und natürlich auch über Anregungen zu Monatsthemen.

Herzlich,
Sabina Haas

Der Brief im Taxi von Louise de Vilmorin (208 Seiten)
übersetzt von Patricia Klobusiczky

Dieses kleine Kammerspiel ist angelegt in der gehobenen Pariser Gesellschaft im frühen bis mittleren zwanzigsten Jahrhundert. Gustave hat die unkonventionelle, unbekümmerte Cécile nur geheiratet, weil sie in den richtigen Kreisen verkehrt. Mittlerweile liebt er sie von Herzen, hat aber auch Gefallen an seiner Banquierkarriere gefunden und erwartet von Cécile, dass sie ihn zu langweiligen Einladungen bei langweiligen Menschen begleitet. Zuhause hat er ihr eine Bücherhöhle eingerichtet, in der sie Artikel, Reiseberichte und Drehbücher schreibt, unter anderem für ihren Bruder Alexandre. Dessen Geliebte Gilberte begleitet sie eines Tages zum Bahnhof, und dabei verliert Cécile im Taxi einen Brief. Dies versetzt sie nicht nur in Angst und Schrecken, sondern bringt auch ihr ganzes Leben durcheinander.

Als Leser weiss man lange nicht, an wen dieser Brief adressiert war, was darin stand und wer ihn gefunden hat. Aber wir schauen Cécile zu, wie sie über diesen Verlust immer mehr in Verzweiflung gerät. Doch dann taucht der Finder auf, ein heimlicher Verehrer von Cécile, und will als Finderlohn ein Abendessen mit ihr allein. Cécile sagt widerwillig zu, aber dann ändert ihr Ehemann die Pläne und lädt ausgerechnet für den verabredeten Abend seinen langweiligen Gönner und dessen Frau ein. Cécile ist genötigt zu lügen, je mehr Unwahrheiten sie erzählt, desto mehr verstrickt sie sich und zieht auch andere Menschen in ihr Netz von Ausreden und Flunkereien hinein. Zum Beispiel Gilberte, die von Alexandre mittlerweile abserviert wurde und sich nun schleunigst einem neuen Ziel zuwenden muss, ist es doch ihr oberstes Ziel, sich durch einen entsprechenden Mann einen Platz in der gehobenen Gesellschaft und finanzielle Sicherheit zu ergattern. Die Missverständnisse häufen sich, Gustave wird misstrauisch, die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Das kleine Gesellschaftsstück, verfasst von der französischen Adeligen, Schriftstellerin und Journalistin Louise de Vilmorin, kommt charmant-altmodisch daher. Sie wusste nicht nur, wovon sie schreibt, sondern sie fängt die Wirrungen des Verstandes und der Herzen unaufgeregt, flott und mit einem Augenzwinkern ein. Dass das Ganze so schnell vorbei ist, wie es gekommen ist, darf auch als Spiegel dieser Gesellschaft gedeutet werden. Am Schluss hat sich nicht viel verändert, nur die Figuren in dem Stück sind ein wenig zerzauster als vorher. Ein amüsantes Lese-Erlebnis, das einem einen kurzen Einblick in das französische Gesellschaftsgehabe anfangs des 20. Jahrhunderts gewährt.

Liebe Mrs Bird von A.J. Pearce (309 Seiten in der englischen Ausgabe)
übersetzt von Silke Jellinghaus

Dieses Buch wurde mir von einer Bekannten empfohlen, die eher leichtere Lektüre liest; ich war daher etwas skeptisch. Anfangs bestätigte sich dieser Verdacht auch ein wenig, aber dann schleicht sich der Krieg mit seiner Tragik in die Geschichte und verleiht ihr eine zuweilen beklemmende Tiefe.

Wir befinden uns in London während des Zweiten Weltkriegs. Emmeline Lake träumt davon, Kriegsreporterin zu werden. Die Stellenanzeige eines grossen Verlagshauses, das auch eine bekannte Zeitung herausgibt, sieht Emmeline als ihre grosse Chance. Sie bewirbt sich und erhält die Stelle, merkt aber schon am ersten Tag, dass vieles anders ist, als sie es sich vorgestellt hat. Siedendheiss muss sie sich eingestehen, dass sie sich beim Vorstellungsgespräch vor lauter Aufregung nicht nach ihren Aufgaben erkundigt hat. Die haben mit Kriegsreportage rein gar nichts zu tun; Emmy wurde noch nicht einmal für den Evening Chronicle’s angestellt, sondern für das kleinere Blättchen Woman’s Friend, das das Verlagshaus ebenfalls herausgibt. Dort muss sie bereits geschriebene Artikel und Kurzgeschichten abtippen und bei der Kummerkastentante Henrietta Bird die eingehenden Briefe vorsortieren. Die Auswahlkriterien sind hart, alles was irgendwie «unpleasant» ist, muss zerschnitten und in den Papierkorb geworfen werden – Mrs Bird will sich weder mit wichtigen noch mit schwierigen Themen befassen. Emmy ist tief enttäuscht von der Stelle, muss aber zunächst in den sauren Apfel beissen.

Der Alltag im Krieg
Emmy und ihre beste Freundin Bunty versuchen, trotz des Krieges, trotz der Einschränkungen und den nächtlichen Bedrohungen ein halbwegs normales Leben zu führen. Sie reden über ihre Verlobten, sie gehen aus, sie quatschen nächtelang. Das las sich wie gesagt zunächst ein wenig wie eine lockere Frauengeschichte, die man sich gut als Vorabendserie vorstellen konnte. Doch dann wurde die Bedrohung des Alltags durch die Kriegssituation immer greifbarer. Etwa bei Emmys freiwilligen nächtlichen Einsätzen als Telefonistin bei der Feuerwehr. In den klaren Nächten scheinen sich die deutschen Bomber vorgenommen haben, London zu zerstören, und oft muss Emmy auf ihrem Nachhauseweg an zerbombten Häuserzeilen vorbei, in denen die Feuerwehrleute – darunter auch der Verlobte von Bunty – noch zugange sind. Doch auch ihr Job bei Mrs Bird belastet sie, täglich fällt es ihr schwerer, all die Hilferufe der Frauen einfach zu entsorgen. Auch dort ist das Gift des Krieges spürbar, wenn sich Frauen zum Beispiel in ausländische Soldaten verlieben oder wenn ihre Verlobten nicht mehr aus dem Krieg zurückkehren. Auch Emmys Verlobter kämpft an der Front, sie kennt die Verzweiflung der Briefeschreiberinnen, und eines Tages steckt sie einen Brief in ihre Handtasche, statt ihn wegzuwerfen …

Und dann ist man plötzlich mittendrin im Krieg. Emmy gerät in gefährliche, tragische Situationen, die nicht nur sie, sondern auch ihre liebsten Menschen bedrohen. Sie muss Entscheidungen treffen, mit denen sie später kaum leben kann. Spätestens da ist es vorbei mit der leichten Lektüre. Die Realität ist erschütternd, der Krieg war nicht nur für die Soldaten an der Front schrecklich, sondern für jede und jeden Einzelnen, die Tragik hat sich in sämtliche Lebensbereiche eingenistet und vieles unwiederbringlich zerstört.

Fazit: Zu Anfang mutet diese Geschichte ein wenig trivial und altmodisch an. Doch mit der Zeit entwickelt sie Tiefe, legt offen, wie die Menschen damals unter der Kriegssituation litten und wie diese Situation die sonst schon nicht ganz einfachen Themen Liebe und Vertrauen noch schwieriger machte. Aber auch, wie die Menschen daran wachsen konnten. Liebe Mrs Bird war für mich insgesamt eine positive Überraschung, das mich mitunter stark berührt hat. (Ich habe das Buch in der englischen Version gelesen.)

Sieben Tage Sommer von Thommie Bayer (152 Seiten)

Dies ist nach Fallers grosse Liebe mein zweites Buch von Thommie Bayer, und obwohl man liest, es sei nicht sein bestes, fühlte sich das Lesen für mich wie ein kleiner Urlaub an. Das ist nicht nur dem Setting – ein Ferienhaus an der Côte d’Azur – sondern auch Bayers stilvoller Sprache geschuldet. Auch hier haben wir es mit einer Art Kammerspiel zu tun, aber in Form eines Brief- resp. E-Mail-Romans.

Vor dreissig Jahren haben fünf junge Menschen dem reichen Max das Leben gerettet. Bald darauf trennten sich die Wege, doch nun lädt Max die fünf in sein Ferienhaus ein, wo sie einige Tage mit ihm verbringen sollen. Alle reisen sie an, obwohl keiner so recht weiss, was das Ganze nach so vielen Jahren zu bedeuten hat. Nur Max ist nicht da, lässt sich von seiner Bekannten Anja entschuldigen, die sich vortrefflich um die Gäste kümmert. Mehrmals täglich korrespondiert sie mit Max und hält ihn über die Gäste auf dem Laufenden. Die Paare von früher sind keine mehr, Anja hat bald ihre Favoriten, aber auch ihre Abneigungen. Max dagegen enthüllt ihr stückchenweise die Vergangenheit. In ihrem Austausch erfährt man durch die Art, wie sie über die Gäste sprechen, aber auch viel über Anja und Max selber. Als Max die Gäste Tag für Tag vertröstet, beginnen diese sich zu fragen, warum sie hier, einander fremd geworden, ihre Zeit verbringen. Doch viel Wein, teurer Champagner, auserlesene Gerichte, die schöne Landschaft, der Pool und die perfekte Gastgeberin Anja bewegen sie zum Bleiben. In der entstehenden Gruppendynamik enthüllen sie mehr und mehr ihre Charakterzüge. Lebensgeschichten und Verwundungen treten zu Tage, neue Sympathien und Abneigungen entstehen. Auch bei Anja, die durch Max’s E-Mails mehr und mehr über die fünf Menschen erfährt.

Überzeugende Sprache
Wiederum hat mich Bayer durch seine Sprache überzeugt. Ruhig, manchmal witzig, manchmal ironisch korrespondieren Anja und Max miteinander, mit Worten, die man sich wie eines der köstlichen Gerichte auf der Zunge zergehen lassen kann: «Beim ersten Blick könnte man die Möbel und Bilder für Flohmarktfunde halten, sie trumpfen nicht auf, versuchen nicht, einander zu überbieten mit augenfälligem Wert oder museumsreifer Bedeutung, aber alles hat Würde und Qualität.» (S. 13) Das könnte man auch von Bayers Erzählweise in diesem Buch sagen.

Was der Zweck des Besuchs war und warum Max nicht auftaucht, ist stimmig, war für mich aber gar nicht so wichtig. Ich genoss vielmehr die Art, wie Anja Max über seine Gäste berichtet, wie genau sie beobachtet und wie jede neue Information von Max ihre Ansichten beeinflusst. Ich genoss die feine, treffsichere Sprache, die Stimmungen, die Beobachtungen der Figuren und die Leichtigkeit, mit der eine nicht ganz so leichte Geschichte erzählt wird. Fazit: Eine psychologisch packende, stilvoll erzählte und atmosphärisch gelungene Erzählung, die sich leicht liest und einem trotzdem mit einem zufriedenen Gefühl zurücklässt.

Das geheime Prinzip der Liebe von Hélène Grémillon (256 Seiten)
übersetzt von Claudia Steinitz

Mit Journalisten (und damit meine ich auch ihre weiblichen Kolleginnen), die Romane schreiben, ist das oft so eine Sache. Zwar können sie mit Sprache umgehen, Fakten bekömmlich zusammenfügen und Atmosphäre schaffen. Was mir in ihren Romanen aber oft fehlt, ist die ausgereifte Charakterzeichnung, die Nachvollziehbarkeit der Handlungen ihrer Figuren und die durchdachte Dramaturgie. Auch bei diesem Buch ging es mir so. Es beginnt im Jahre 1975 in Paris: «Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.»

Die Ich-Erzählerin Camille ist im Literaturbereich tätig (wie genau hat sich mir nicht erschlossen) und soeben ihre Mutter verloren, was ihr eine Menge Kondolenzbriefe in den Briefkasten wirbelt. Diese lassen allmählich nach, aber der unbekannte Schreiber sendet ihr weiterhin Briefe, beschreibt darin seine Liebe zu einer gewissen Annie, die ihn schon als Jungen ereilt und nie mehr losgelassen hat. Da die Unterschrift fehlt, ist Camille anfangs skeptisch, vermutet gar, es handle sich um den Trick eines Autors, der ihr so sein Manuskript schmackhaft machen will, aber mit der Zeit ist sie doch gespannt, wie es weitergeht.

Die Briefe sind wie ein Bericht oder wie Tagebucheinträge verfasst, der Schreiber – er heisst Louis – schreibt ebenfalls in der Ich-Form. Wir erfahren, dass Annie als heranreifendes Mädchen Freundschaft schliesst mit einer Frau in einer höheren Gesellschafsschicht, die in das Dorf gezogen ist, um von den Bemerkungen und Blicken ihrer Freundinnen zu flüchten, die allesamt schon Babys haben. Madame M. ist unfruchtbar. Louis verliert Annie aus den Augen, und als er sie Jahre später in Paris wieder trifft, erzählt sie ihm stückweise, was es mit dieser Verbindung zu Madame M. auf sich hat. Auch dies wird in der Ich-Form erzählt, aber diesmal von Annie. Diese hat sich bereit erklärt, für Madame M. als Leihmutter zu fungieren, ein Entschluss, der eher aus einer Laune entstand als aus reiflicher Überlegung. Die kommt später, aber da hat das Schicksal schon an Fahrt aufgenommen. Die Ebene dieses dritten Erzählstrangs spielt zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, die Geburt fällt mitten in die Wirren dieser Zeit, bald darauf marschieren die Deutschen in Paris ein.

Zu viel von vielem
Später kommt noch eine vierte Erzählebene hinzu, nämlich jene von Madame M., ebenfalls in der Ich-Form. Zwischen diesen verschiedenen Berichten verliert der Leser Camille zuweilen fast ganz aus den Augen. Diese vermutet aber immer mehr, dass diese ganzen Geschehnisse etwas mit ihrer Herkunft zu tun haben.

Mich konnte das Buch nicht packen, trotz der bewegenden Themen, trotz der an und für sich interessanten Verwandlung einer Freundschaft in eine Obsession. Vielleicht wollte die Autorin zu viel in die Geschichte hineinpacken; zu viele Thematiken, zu viele Erzählebenen, zu viele Schicksale. Ausserdem schaffte das Berichthafte eine wohl ungewollte Distanz. Sämtliche Figuren blieben mir fern, ich konnte ihre Handlungs- und Denkweise nicht nachvollziehen, einiges erschien mir schlicht unglaubwürdig oder wirkte übertrieben. Auch den – irgendwann vorhersehbaren – Schluss empfand ich als unbefriedigend – dieses letzte Kaninchen, das die Autorin aus dem Hut zog hätte sie meines Erachtens lieber drin gelassen.
Das war leider kein Buch für mich, es darf bei mir wieder ausziehen.

Adressat unbekannt von Kressmann Tayler (95 Seiten)
übersetzt von Dorothee Böhm

Und damit sind wir nicht nur beim Monatshighlight angelangt, sondern bei einem der beeindruckendsten Bücher, das ich je gelesen habe. Ich trug es noch lange nach Beendigung in meinen Gedanken mit mir herum, war tief beeindruckt, was uns die Autorin es erzählt und vor allem wie. Und das bei einem Büchlein, das nicht grösser ist als eine Postkarte und gerade mal 95 Seiten stark, inklusive Nachwort von Elke Heidenreich. Warum mich dieses Büchlein in Form eines Briefwechsels umgehauen hat, lesen Sie in der etwas ausführlicheren Lese-Empfehlung.

The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society von Mary Ann Shaffer und Annie Barrows (274 Seiten), übersetzt von Margarete Längsfeld und Martina Tichy

Dieses Buch heisst auf deutsch Deine Juliet – für mich eine der grössten Buchtitel-Übersetzungs-Sünden überhaupt; eine einzige Beleidigung für den wunderschönen, einmaligen und liebevollen englischen Titel Die Guernsey Literatur- und Kartoffelschalenauflauf-Vereinigung!

Ich habe dieses Buch vor Jahren schon einmal gelesen und mir auch die recht gut gelungene Verfilmung angeschaut. Es ist ein reiner Briefroman, der es trotzdem schafft, dass man eine ganze Menge Menschen und deren schicksalshafte Geschichte kennenlernt. Sie startet mit einem Briefwechsel zwischen der jungen, temperamentvollen Journalistin und Schriftstellerin Juliet Ashton und ihrem Verleger Sidney und dessen Schwester Sophie, Juliets bester Freundin. Wir befinden uns in London im Jahre 1946, viele Dinge des täglichen Lebens sind noch rar, die Häuser noch nicht wieder aufgebaut, aber die Menschen wollen wieder leben. Juliet hat in Kriegszeiten eine Zeitungskolumne geschrieben, die nun als Buch veröffentlicht wurde, Sidney schickt sie damit auf Lesetour. Während sie noch nach einer Idee für ein neues Buch sucht, erhält sie einen Brief von Dawsey Adams, einem Bauern auf der Kanalinsel Guernsey. Ihren Namen hat er aus einem antiquarisch erstandenen Buch, das früher einmal Juliet gehört hat. Die beiden fangen an, sich per Brief über den Autor Charles Lamb auszutauschen, aber auch über mehr, zum Beispiel die Guernsey Literatur- und Kartoffelschalenauflauf-Vereinigung. Diese ist, so erzählt Dawsey, während der deutschen Besetzung der Insel aus Not entstanden, weil einige Inselbewohner nach der Sperrstunde von deutschen Soldaten angehalten wurden und spontan diesen Club als Grund ihres Treffens angaben. Nun musste sich die Vereinigung natürlich tatsächlich treffen, denn die Deutschen kontrollierten das. Bücher mussten her, Leser mussten her, unter anderem eben Dawsey.

Juliet, die Bücher liebt, ist sofort Feuer und Flamme, Dawsey bittet die Mitglieder, Juliet von der Vereinigung zu erzählen, und so erfährt Juliet immer mehr über diese Menschen, aber auch über die schlimmen Jahre der deutschen Besetzung. Guernsey, das näher an Frankreich als an England liegt, sollte Basis für Hitlers Invasion nach England werden. Fünf Jahre lang litten die Bewohner nicht nur unter Schikanen und immer knapper werdenden Lebensmittel – die Deutschen rissen alles an sich – sondern auch unter der völligen Abriegelung vom Mutterland England; jeglicher Kontakt war verboten, die Radios nahm man den Inselbewohnern ebenfalls weg. Als klar war, dass die Deutschen die Insel besetzen würden, mussten sich Eltern innerhalb eines Tages entscheiden, ob sie dem Angebot von England, ihnen die Kinder zu schicken, nachkommen wollten – eine herzzerreissende Entscheidung. Erschütternd sind auch die Szenen über tausende von Zwangsarbeitern der Organisation Todt, die die völlig überzogene Befestigung der Insel aus dem Boden stampfen mussten und von den Deutschen nachts freigelassen wurden, damit sie sich, nur noch Haut und Knochen, Lebensmittel zusammenstehlen konnten.

Positiver Grundton
Während Juliet in London von einem amerikanischen Verehrer zur Verlobung gedrängt wird, ist ihr Herz immer mehr bei ihren neuen Freunden auf Guernsey, sehr zum Missfallen ihres Verehrers. Dennoch entschliesst sie sich, die Insel zu besuchen, mit dem Hintergedanken, vielleicht ein Buch über diese Zeit, die Bewohner und ihren Literaturclub zu schreiben.

Obwohl das Buch auch schlimme Themen behandelt, überwiegt der positive Grundton, der Zusammenhalt und die Freundschaft der Inselbewohner während der Besatzung. Die Briefe sind in einer wunderschönen, humorvollen und charmanten Sprache geschrieben, fast erwacht etwas Wehmut, dass Briefeschreiben heute derart in Vergessenheit geraten ist. Beim ersten Lesen hat das Buch bei mir auch das Fernweh nach diesen britischen Kanalinseln geweckt, und einige Jahre später habe ich Jersey besucht. Guernsey steht noch auf dem Programm … Deine Juliet ist eine hinreissende Erzählung über Freundschaft, die Kraft der Literatur und – ja, auch über Liebe. Leider konnte die Autorin den grossen Erfolg ihres Romans nicht mehr miterleben, da sie kurz vor der Veröffentlichung verstorben ist.

Lesemonat Oktober 2022 als PDF.

Alle Lesemonate im Überblick

 

 


Comments

Lesemonat Oktober 2022 – Briefe — 2 Comments

  1. Hi Sabina—hoffentlich geht’s dir wieder besser nach deiner Grippe! Ein Fall von „making lemonade out of lemons“. Danke für diese wunderbaren Beschreibungen. Ich habe mir das Address Unknown als erstes in unsere Leihbücherei bestellt.

    • Liebe Elisabeth
      Vielen Dank, ich habe mich in der Zwischenzeit erholt, obwohl es länger als sonst dauerte. Toll, dass du dir das Buch bestellt hast – lass mich bitte unbedingt wissen, was du davon hältst! 🙂
      Herzliche Grüsse over the ocean,
      Sabina

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