Vom ersten Mal Bosnien
Der Tuzla International Airport hat zwei Gates – eines für die Arrivals, eines für die Departures. Im Warteraum gibt es zwar seit ein paar Monaten Stühle, aber keine Lautsprecher und schon gar keine Bildschirme. Ist ein Flug verspätet, sitzt man da und wartet. Und wartet. Schaut aus dem Fenster und schätzt ab, ob der stockdicke Nebel nicht doch vielleicht einige Zentimeter gewichen ist seit dem letzten Mal Aus-dem-Fenster-schauen. Dass so kein Flugzeug landen kann, weiss jedes Kind. Nach einer Stunde sieht man die Silhouetten der Büsche auf der anderen Seite der Landebahn, nach einer weiteren halben Stunde die Umrisse eines Wäldchens. Hoffnung. Nach fast zwei Stunden wird es plötzlich laut beim Eingang. Ein Mann in Uniform und mit Ausweis auf der Brust informiert mit lauter Stimme, was Sache ist. Auf bosnisch. Das Flugzeug, das nun doch endlich unterwegs ist, fliegt zuerst noch nach Belgrad. Wenn man Glück hat, was an diesem kalten Montagmorgen der Fall ist, sitzt jemand neben einem, der Deutsch spricht und übersetzt. Er tut das gerne, dieser Jemand, und dies ist einer der stärksten Eindrücke, die ich von Bosnien mit nachhause nehme: die Freundlichkeit dieser Menschen. Er schiebt sich vor die anderen, nicht immer schönen Dinge, die ich in den letzten drei Tagen mitbekommen habe: Der überfahrene Hund, der schon beim Hinfahren mitten auf der Strasse lag und von dem ich auch heute Morgen, auf dem Rückweg zum Flugplatz, meinen Blick abwenden musste. Niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn wegzuräumen.
Der Geruch nach verbrannter Kohle, der den ganzen Winter über in der Luft hängt, weil die Stadt von zwei Kohleheizwerken versorgt wird. Ab einem bestimmten Datum im Herbst bis zu einem bestimmten Datum im Frühling wird geheizt, unabhängig von den Temperaturen. Die Haushalte bezahlen einen Pauschalbetrag, also laufen alle Heizungen auf Volltouren. Ist es zu warm, wird das Fenster geöffnet. Niemand käme auf die Idee, die Heizungen herunterzudrehen. Und das riecht man, Tag und Nacht.
Die vielen Treppen, Bordsteine und Gehsteige, aus denen ganze Stücke herausgebrochen sind, sodass man den Blick ständig auf den Boden richten muss. Niemand repariert sie, es fehlt das Geld, und die Regierung beschäftigt sich lieber mit anderen Dingen. Doch trotz dieser gefährlichen Löcher sehe ich viele Frauen in Highheels.
Überhaupt, diese Frauen. Fast alle sind modisch gekleidet, geschmackvoll geschminkt. „Das gibt uns ein Gefühl von Normalität“, erklärt Tenzila, eine der Mitarbeiterinnen der Hilfs-Organisation, die ich besuche. Sie gehen aufrecht, diese Frauen, sie tun, was sie können. Und das bei einer Arbeitslosenquote von rund 44 Prozent. Ich spreche mit einer Gruppe junger Frauen, die alle einen Uni-Abschluss haben als Pädagogin, Psychologin, Theologin, in Philosophie oder in Umweltwissenschaft. Keine hat einen Job, manche finden nicht einmal eine Praktikumsstelle. Auf dreihundert ausgebildete Sozialarbeiterinnen, erzählt mir eine von ihnen, gibt es in Tuzla eine einzige Stelle. Und dennoch geben diese jungen Frauen nicht auf. Zumindest zu Beginn. Wenn sie keine Jobs finden, besuchen sie Seminare und engagieren sich in NGOs, ohne einen Rappen dafür zu erhalten. Mir fällt ein Zeitungsartikel ein, in dem über die bosnische Jugend nichts als geschimpft wurde; dass sie nur auf Jobs in der Verwaltung aus seien, sich für unwürdig halten, sich auch mal die Finger schmutzig zu machen und Angebote für niedrig bezahlte Praktika nur abwinkten. Ich weiss nicht, woher der Journalist seine Informationen hatte, aber mit diesen Frauen hier hat er bestimmt nicht gesprochen. Für das kleine Theaterstück, das sie im Rahmen des Projektes „Breaking the Silence on Gender Based Violence“ nächste Woche in einer Schule aufführen wollen, haben sie freiwillig zwei Extraproben organisiert. Am Sonntag und am darauffolgenden Feiertag. „Ich würde sie am liebsten alle anstellen“, meint Selma, die Leiterin des Projekts. Denn, so erzählt sie weiter, nach Jahren erfolgloser Jobsuche wird auch von dieser engagierten Gruppe eine nach der anderen aufgeben.
Selma selbst hat Glück gehabt. Auch sie war arbeitslos und hat sich als Freiwillige engagiert. Hat für eine NGO gearbeitet, obwohl ihr diese kein Geld und keine Aussicht auf eine Anstellung geben konnten. Erst als das Projekt, in dem sie arbeitete, von einer Stiftung aus der Schweiz Unterstützung erhielt, klappte es mit der Anstellung. Für sie ist ein grosser Traum in Erfüllung gegangen, und heute hilft sie anderen Frauen, ihrem Traum ein wenig näherzukommen. Jenen Frauen aus ländlichen Gegenden zum Beispiel, die jeden zweiten Samstag in die Stadt fahren, um sich Computer-Grundkenntnisse anzueignen. Für viele Frauen auf dem Lande sind solche Anlässe die einzige Gelegenheit, aus dem Haus zu kommen und sich zwanglos mit anderen Frauen zu treffen. Die Stadtfrauen, die ich beobachte, scheinen da ganz anders zu sein. In der hübsch hergerichteten Fussgängerzone treffen sie sich in Cafés, die im November noch immer ihre Tische auf dem Gehsteig bedienen. Sie rauchen, tippen auf ihren hochmodernen Handys herum und geben sich sehr modern und weltmännisch. Als mich Ivona fragt, wie es für mich sei, dieses erste Mal Bosnien, sage ich deshalb: „Kontrovers“. Ich kann sie spüren, die Kraft und der Wille, die in diesen Frauen stecken. Aber da ist das System, die Regierung, die, wie uns der junge Bosnier sagte, der auf dem Hinflug neben uns sass, „grauenhaft“ sei, „das Letzte.“ Er lebt heute in Luxembourg und flog an diesem Freitag zu Besuch zu seiner Familie. Er habe immer wieder versucht, seine Familie zu ermuntern, etwas zu tun. Sich zu wehren. Auf die Regierung Druck zu machen. So wie letzten Februar, als in Tuzla die Arbeitslosen demonstrierten. Zurückgeblieben sind ausgebrannte Regierungsgebäude und ausgebrannte Bosnier. „Sie haben keine Kraft mehr“, meint der junge Mann. Viele hätten auch Angst, sich an jemanden zu wenden weil sie fürchten, dann das Wenige, das sie von der Regierung erhalten, auch noch zu verlieren. Und so bleibt alles beim Alten. Bevor wir uns verabschieden sagt er noch: „Wenn Europa keinen Druck macht, ist das Land verloren.“
Das Café, in dem wir am Samstagnachmittag zu Kaffee und Kuchen einkehren, ist fast leer, obwohl es für seine Patisserie bekannt ist. Im Hotel sind wir beinahe die einzigen Gäste, genauso wie in dem Restaurant, in dem wir zu Abend essen. Doch als wir nach dem Essen auf den grossen Platz in der Fussgängerzone hinaustreten, stehen da hunderte junger Menschen herum, reden, lachen, trinken. Dahinter, hinter Planen mit Werbeaufdruck verborgen, steht das alte Regierungsgebäude. Es ist baufällig, doch es ist kein Geld da, um es abzureissen. So steht es still versteckt und wartet. Nur ab und zu macht es auf sich aufmerksam, wenn wieder ein Teil einbricht und den ganzen Platz mit einer Staubwolke einhüllt. Etwas weiter die Strasse runter steht ein Gefängnis mit einem öffentlichen Restaurant, das von Insassen betrieben wird. Gegensätze, wie die Tatsache, dass nur wenig ausserhalb der Stadt noch immer Menschen in Zelten leben, weil sie seit dem Hochwasser im Mai noch keine neue Bleibe gefunden haben.
Ich schaue bestimmt zum hundersten Mal zum Fenster hinaus. Der Nebel weicht, gibt die Landebahn frei, zieht sich widerwillig zurück. Und da, plötzlich, erscheint aus dem Nebel ein Flugzeugrumpf, die lila Farbe der Airline scheint dem Nebel den Rest zu geben. Die Menschen um mich herum springen auf und applaudieren. Mich durchfährt ein Schauer, und irgendwie muss ich an Krieg denken und daran, wie sich Menschen auf der Flucht gefühlt haben müssen, zusammengepfercht, wartend, ohne Information und ohne Garantie, dass es das rettende Flugzeug auch tatsächlich bis zu ihnen schaffen wird. Aber der Krieg ist vorbei, auch in Bosnien, zieht nur noch seine langen Schatten hinter sich her. Wie lange dieses Land das noch ertragen kann, weiss ich nicht. Aber als ich endlich im Flugzeug sitze und sich die Erde unter uns wegbewegt, lasse ich dankbar und erleichtert etwas zurück; die Schwere, mit der die Menschen in diesem Teil der Welt tagein, tagaus leben müssen.
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