Vom kleinen Unterschied
Wenn es um Figuren in Geschichten und Romanen geht, liest man in Schreibratgebern und auf einschlägigen Internetseiten vor allem eins: dass man viel, sehr viel über sie wissen muss. Wenn möglich alles. Neben dem detaillierten Erscheinungsbild und der lückenlosen Biographie auch sämtliche Abneigungen und Vorlieben, alle mehr oder weniger dramatischen Erlebnisse, die politische Gesinnung, das Liebesleben, ja sogar die Zahnpasta-Marke. Um all dies zu ermitteln, findet man unzählige Tipps; Biographien schreiben, Interviews mit den Figuren führen, echte Menschen beobachten und den Figuren deren Eigenheiten überstülpen. Man findet sogar Vorlagen dafür, Dokumente mit Titeln wie 100 Fragen, die Sie Ihrer Figur stellen sollten oder 60 Dinge, die Sie von Ihrer Figur wissen sollten.
Ich habe – nachdem ich zu meiner Romanidee Ja gesagt und schon ein hübsches Häufchen Seiten geschrieben habe – viele davon zu Hilfe genommen und mich an die Arbeit gemacht. Ich habe Biographien geschrieben, Interviews gemacht und viele weitere Ratschläge befolgt. Sie haben mir geholfen, haben mir dies und jenes über meine Figuren gezeigt, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, mehr über sie zu wissen. Meinem Ziel also etwas näher gekommen zu sein.
Und dennoch. Etwas fehlte. Ich liess meine Hauptperson zwar agieren im Sinne der Geschichte. Ich schrieb Szenen, Rückblenden und stellte sie mir vor, wie sie dies und jenes tat. Aber irgendwie war das alles platt. Aufgesetzt. Es war, als hätte ich ihr in meiner Geschichte eine Rolle zugeteilt, die sie nur widerwillig erfüllte. Und das machte auch mir keinen Spass.
Dann machte ich mit einer meiner Schreibgruppen eine Übung, in der sich die Teilnehmer von ihren beiden Hauptfiguren zu einem Abendessen einladen lassen. Sie sollten darüber schreiben, was sie von dem Abend erwarten und wie er dann tatsächlich abläuft. Ich entschied mich zum Mitschreiben. Eine gute Entscheidung. Denn als sich die Türe zur Wohnung meiner Protagonistin und ihrem Mann öffnete, stand da jemand ganz anderer vor mir. Ich hatte sie mir ein wenig pummelig ausgedacht, mit rötlichem, langem Haar, aber sonst sehr unscheinbar, mit sich selber im Laufe der Ehejahre etwas nachlässig geworden. Nun aber stand eine grosse, beinahe magere Frau vor mir, eine sehr gepflegte und stilvolle Erscheinung mit einem aschblonden Pagenschnitt, die aber mit dem Glanz und der Erscheinung ihres Mannes nicht mithalten konnte. An diesem Abend erfuhr ich dann von den beiden, warum sie mich eingeladen hatten: Sie wollten sich an einem Punkt der Geschichte anders entscheiden, als ich es ihnen zugedacht hatte. Wow. Plötzlich hatte ich es mit Menschen zu tun, nicht mehr mit Figuren.
Kurze Zeit später wollte es das Schicksal, dass ich mich zwei Tage lang mit anderen Geschichtenschreibern über unsere Figuren austauschen konnte. Am Ende dieser zwei Tage sassen nicht sechs Autoren um einen Tisch, sondern sechs Autoren und mindestens sechsunddreissig Figuren. Sie hatten alle in diesen zwei Tagen mehr und mehr Gestalt angenommen, hatten mit uns geredet, agiert, sich gewehrt, Dialoge geführt und Konflikte ausgetragen. Und wir, die Autoren, haben sie kennen gelernt.
Das ist er, der kleine Unterschied: Es reicht nicht, alles über die Figuren zu wissen. Man muss sie kennen. Kennen lernen. Und das geht nur wie im richtigen Leben: indem man Zeit miteinander verbringt.
Und plötzlich läuft es wieder mit dem Schreiben. Ich weiss jetzt, was meine Protagonistin machen würde und was nicht. Und warum. Ich brauche nicht mehr darüber nachzudenken oder es gar in ihrer Biographie nachzuschlagen. Ich weiss es. Weil ich sie kenne, diese grosse, hagere Frau. Mit jeder Zeile, die ich über sie schreibe, etwas mehr. Und weil ich sie mitreden lasse. Denn schliesslich kennt sie sich selber am besten.
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