Vom Lesen
Kürzlich war ich zu einem Literaturabend eingeladen, der folgendermassen funktionierte: Jeder Gast liest, in einem wunderschönen alten Ohrensessel thronend, einen mitgebrachten Text vor, egal ob Artikel, Gedicht oder Ausschnitt aus einem Buch. Ich mag solche Anlässe vor allem deshalb, weil ich mit Texten Bekanntschaft mache, denen ich sonst wahrscheinlich nie begegnet wäre. Eines meiner Lieblingsbücher – „Pferde stehlen“ von Per Petterson – verdanke ich einem solchen Abend.
Allerdings werden manchmal Texte zum Besten gegeben, mit denen ich nun wirklich nichts anfangen kann. Ich höre dann einfach weg und warte, bis der Vortragende geendet hat, um mich in der anschliessenden Diskussion still und leise über die Interpretationen und Gedankengänge zu amüsieren, zu denen sich die Anwesenden gegenseitig hochschaukeln. Auch an besagtem Abend gab es einen solchen Fall. Schon die Einleitung verhiess nichts Gutes: „Dies ist ein Buch, das man nicht lesen sollte, bevor man dreissig ist.“
Es war ein furchtbarer Text. Ein komplizierter, elitärer, verstiegener und in meinen Augen vollkommen unnötiger Text. Als es vorüber war, herrschte Stille. Ein Räuspern erklang, und dann meinte jemand zaghaft: „Man muss wohl eher schon vierzig sein, um dieses Buch zu verstehen.“ Ich sass, schwieg und amüsierte mich. Aber dann wäre es beinahe passiert. Beinahe hätte ich laut heraus gelacht, als der Vorleser, in Denkerpose in den Stuhl gesunken, Zustimmung heischend in die Runde blickte und in die zähe Diskussion hinein sagte: „Ich habe mich schon durch manches Buch gequält.“ Ich konnte mich gerade noch beherrschen, sodass mir nur ein Glucksen entfuhr. Am liebsten hätte ich den armen Kerl bei den Schultern gepackt, hätte ihn geschüttelt und gerufen: „Warum liest du nicht einfach Bücher, die dir Spass machen? Die dir gefallen? Die du GERNE liest?“ Aber vermutlich hätte er mich nur verständnislos angeschaut. Denn „sich durch Bücher quälen“ war in seiner Welt wahrscheinlich eine Heldentat.
In meiner nicht. Ich lese Bücher, weil sie gut sind. Spannend. Toll erzählt. Gekonnt aufgebaut. Weil sie mich unterhalten und mitreissen. Weil die Figuren überzeugend sind. Weil ich wissen will, wie es weitergeht. Weil ich mich beim Lesen in dieser Welt wiederfinde, manchmal die Kälte spüren, die Gerüche riechen oder den Verrat erahnen kann. Ein Buch muss mich in den ersten zwei, drei Kapiteln überzeugen, dass ich das bei ihm finde. Wenn nicht, lege ich es weg. Dieses Schicksal erleiden bei mir etwa acht von zehn Büchern. Da bin ich unerbittlich. Dabei ist es mir egal, ob ein Buch in aller Munde ist, auf den Bestsellerlisten fungiert und im Literaturclub gelobt wird. Ich bin mein eigener Literaturclub.
Ich kann nichts dafür: Bei einer schlecht erzählten Geschichte stehen mir die literarischen Nackenhaare zu Berge. Solche Bücher nicht fertig lesen oder „mich durch sie hindurch quälen“ zu müssen, ist mein ganz persönlicher Luxus. Beim Lesen muss ich keine Kompromisse machen. Über mein Bücherregal bin ich die Alleinherrscherin. Und dort dulde ich nur vorläufig Ungelesenes und Gutes. Bücher gibt es schliesslich genug. Auch gute. „Die Giftholzbibel“ von Barbara Kingsolver zum Beispiel, oder „Am Hang“ von Markus Werner und „Meistersänger“ von Orson Scott Card. Das sind Bücher, die sich auf meinem Bücherregal einen festen Platz erobert haben. Bücher, für die es sich lohnt, acht ihrer Artgenossen auszustauben und in den Second Hand Shop zu bringen. Ich bin sicher: Sie werden dort über kurz oder lang von einem „Lese-Helden“ entdeckt, der sich durch sie hindurch quält und sich innerlich dafür auf die Schulter klopft. Ich hingegen beschäftige mich bereits mit der nächsten literarischen Perle. Für schlechte Bücher ist das Leben nun einmal zu kurz.
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