Vom Morgestraich
“… und hänn dorum bschlosse, der Aawäsendi Ärnst Bluemebach für hundert Joor vo dr Fasnacht uss z’schliesse.” Ernst steht vor dem Richtertisch und schaut den höchsten aller Fasnachtsherren mit einem Blick an, der nichts mehr sieht. Die Welt um ihn herum verschwindet. Ernst fällt, endlos, immer tiefer, immer schneller. Er hört sich schreien: “Aber es isch doch nur ai Sekunde gsi!” Doch er weiss im selben Augenblick, dass diese eine Sekunde unverzeihlich ist. Selbst eine halbe wäre ein Verbrechen. Es ist seine Aufgabe, Schlag vier Uhr mit seinem Kommando fertig zu sein. Nicht drei Uhr neunundfünfzig Minuten und neunundfünfzig Sekunden. Vier Uhr null null, auf den Schlag genau. Ernst versucht es ein letztes Mal: “Herr Richter, my aigeni Schand isch doch weiss Gott gross gnueg gsi!” Doch der Richter zischt, schon ganz von ferne: “Loss Gott uss em Spiil, Bluemebach!”
Ernst fällt immer tiefer, wirbelt herum, dreht sich im Kreise, bis er schliesslich mit einem gewaltsamen Ruck in seinem Bett aufschlägt. Mit rasendem Herzen und Schweiss auf der Stirn setzt er sich auf. “Loss Gott uss em Spiil, Bluemebach…” Da scheppert auch schon der Wecker. Ernst springt aus dem Bett und sucht hastig und verwirrt sein Kostüm zusammen. Er tritt in die Nacht hinaus und strebt begierig und voller insbrünstiger Vorfreude der Zweiundsiebzig-Stunden-Glückseligkeit entgegen. Er saugt die einmalige Stimmung tief in seine Lungen ein und hätte den Traum beinahe vergessen…
Schon fast bei seinem Stammlokal angekommen, grinst ihn plötzlich aus einer Seitengasse eine Fratze an. “Dankt drä: Nid ai Sekunde z’frieh!”
Ernst gefriert augenblicklich. Die Fratze sieht’s, lacht gehässig und zischt: “Hesch Angscht gäll? Bisch ganz ellai… Bluemebach! Gaaaanz ellai.”
“Verzieh di” röchelt Ernst heiser, und die Fratze weicht zurück. Irgendwo hat Ernst dieses Gesicht schon mal gesehen … “Hundert Joor stöhn uff em Spiil!” Wie Spucke liegen die Worte vor Ernsts Füssen, die Fratze ist weg.
Wie er schliesslich ins Cliquenlokal gekommen ist weiss Ernst nicht mehr. “Hesch d’Uhr grichtet?” meint einer halb im Scherz, doch Ernst will explodieren. Er hält es nicht mehr aus und geht auf die Gasse. Zwanzig Minuten vor vier. Die Strasse ist voller Menschen. Sie reden, lachen, klopfen fröstelnd die Fäuste gegeneinander. Ernst schwitzt. Noch zehn Minuten. Die Clique tröpfelt auf die Strasse. Ernst sieht Bekannte und Freunde am Strassenrand, die ihm zuwinken und eine schöne Fasnacht wünschen. Er steht einfach da, friert und schwitzt, zittert und möchte heulen. Die Clique steht ein, die Laterne wird angezündet. Noch fünf Minuten.
Ein Gesandter der Fasnachtsrichter, der Engel der Zeit, erscheint neben Ernst. Er wird ihn bis zum Beginn der elf Sekunden begleiten, doch dann wird Ernst allein sein. So allein wie niemals zuvor und niemals danach in seinem Leben. Elf unerbittliche Sekunden liegen vor ihm, hundert Jahre Fasnachtsverbot hängen über ihm. Rundum erwachen die Kopflatärnli zum Leben. Noch erscheinen sie bleich im Kampf gegen die Strassenbeleuchtung. Ein kunterbuntes Gewimmel füllt die Strassen, Wortfetzen schweben an Ernsts Ohren vorbei. Durch seine Nervenbahnen jagen tausende von Volt, er ist seiner nicht mehr mächtig. “Worum duesch dr das aa, immer wider?” tönt es aus seinem Inneren. “No drissig Sekunde!” ruft der Engel. Ernst geht zum hundertsten Mal das Kommando durch, klopft mit dem Fuss das Tempo. “No zwanzig Sekunde!”
Und dann steht sie vor ihm, leibhaftig und tatsächlich: Frau Fasnacht. Sie lächelt ihn an, nickt ihm ermutigend zu und klopft im gleichen Takt wie Ernst mit dem Fuss. Aber natürlich! Wie konnte er das vergessen? Sie kommt jedes Jahr, um drei Uhr, neunundfünfzig Minuten, vierzig Sekunden. Frau Fasnacht wird Ernst durch die schlimmsten elf Sekunden des Jahres führen, die elf Sekunden vor dem Morgestraich. “No fuffzäh Sekunde”, donnert der Engel, “vierzäh, dryzäh, zwölf, elf!” Ernst blickt in Frau Fasnachts Augen und sagt mit ihr im Gleichtakt das Kommando:
“Achtig!”
Nicht hetzen, Ernst…
“Die Alti Garde…”
Gut so, du bist im Tempo.
“… Morgestraich, vorwärts Marsch!”
Es ist noch immer taghell. Eine tausendstel Sekunde erstarrt Ernst in panischer Angst, sieht die grinsende Fratze vor sich, sieht sich bereits hundert Jahre auf die nächste Fasnacht warten. Doch exakt mit dem ersten Trommelschlag erlöschen sämtliche Lichter der Stadt. Und exakt mit diesem Trommelschlag wird Ernst neugeboren. Sein Herz zerspringt vor Freude, er tut den ersten Schritt hinein in zweiundsiebzig Stunden Seligkeit. Frau Fasnacht hat er augenblicklich vergessen, genauso wie den Engel, die Fratze und die Richter.
“Hett halt doch e Schutzängel, dr Bluemebach,” murmeln diese und ziehen enttäuscht von dannen. “Aber dr Albtraum hält en fascht verwütscht…”
Fascht, aber nid ganz. Gäll, Frau Fasnacht…
Comments
Vom Morgestraich — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>