Vom Mutigsein
Manche der Schreibübungen, die ich meinen Kursteilnehmern vorsetze, werden zunächst mit fragenden Blicken („Muss das sein?“) oder mit Seufzern („Okay, okay – ich mach ja schon …“) quittiert. Manchmal werden auch ein paar Löcher in die Luft gestarrt, Stifte werden angekaut. Das ist ganz in Ordnung, denn wer nicht auch ein bisschen leidet, der schreibt keine guten Texte. Es gibt aber eine Übung, bei der die meisten Teilnehmer schon zu schreiben scheinen, bevor ich mit Erklären fertig bin. Sofort werden die Stifte übers Papier gehetzt und die Tasten malträtiert, als gelte es etwas zu verfolgen und einzufangen. Die höchst konzentrierten Gesichter signalisieren nur eines: „Nicht stören. Nicht jetzt!“ Die „Muss das sein?“-Blicke ernte ich dieses Mal erst, wenn ich sage: „Die Zeit ist um.“ Es dauert dann immer noch ein Weilchen, bis sich auch die Letzte vom Papier oder vom Bildschirm losgerissen hat und sich mit einem erlösenden Seufzer zurücklehnt. Die Aufgabe lautete: „Wenn ich mehr Mut hätte …“
Wenn sie mehr Mut hätten, die Menschen, würden sie Häuser verkaufen, in denen sie sich nicht mehr zuhause fühlen. Sie würden doch noch nach Neuguinea reisen, eine zweite Ausbildung machen oder in Norwegen ein neues Leben beginnen. Sie würden den Job künden (endlich!) und der heimlich Angebeteten ihre Liebe gestehen (ja!). Sie würden die Freundin anrufen, mit der sie sich vor Jahren wegen eines Mannes in die Haare geraten sind, den fünfzehn Jahre jüngeren Liebhaber endlich der Familie vorstellen oder (klar doch!) ein Buch schreiben. Ich höre zu und sehe, wie in diesen Menschen das volle Leben aufblitzt, wenn sie ihre Texte vorlesen. Wie ihnen Flügel wachsen und sie sich fühlen wie schon lange nicht mehr.
Auf dem Nachhauseweg gerate ich ins Sinnieren. Warum, so frage ich mich, bleiben derart viele Träume und Herzenswünsche auf ewig in Tagebüchern eingesperrt oder werden in die hinterste Ecke unserer Gehirnwindungen verbannt? Warum, um alles in der Welt, tun wir es nicht? Warum wissen wir in Sekundenschnelle, was wir tun würden, wenn … aber das war’s dann auch schon?
Eine Bekannte von mir reiste kürzlich mutterseelenallein nach Kanada und mietete dort ein klitzekleines Holzhäuschen, ein sogenanntes Cabin, in the middle of nowhere. Als sie mir das erzählte, rief mein Herz sofort „Will ich auch!“ Aber im nächsten Augenblick sagte etwas anderes in mir: „Ha, du würdest ja sterben vor Angst. Ich meine, Kanada – da gibt es Bären! Und überhaupt, was würdest du machen, wenn ….“ Schon hatte ich tausend Gründe, warum ich ganz bestimmt nicht ganz alleine nach Kanada reisen würde, und schon gar nicht in ein abgelegenes Cabin. Mein „Will ich auch!“ liess den Kopf hängen und trottete traurig von dannen. Und ich schaute ihm ebenso traurig hinterher.
Ich glaube, es ist das „Was wäre, wenn …“, das unseren Träumen zum Verhängnis wird. Was wäre, wenn deine Angebetete deine Liebe nicht erwidert, dich vielleicht sogar auslacht? Was wäre, wenn dein neues Leben in Norwegen ein Fiasko wird, so wie es dir alle deine „Freunde“ vorausgesagt haben? Was, wenn dich die alte Freundin abblitzen lässt? Es ist die Angst, blöd dazustehen, verletzt zu werden, auch mal Unangenehmes aussitzen zu müssen. Die Angst, uns bewusst in Situationen zu begeben von denen wir glauben, dass wir auf sie weniger Einfluss haben als auf unsere gewohnten Alltagsabläufe. Situationen, in denen wir sagen müssen: „Leben, ich vertraue auf dich.“
Viel lieber verharren wir in unserem zwar etwas langweiligen, aber wenigstens sicheren Hafen, lassen uns gemächlich von den kleinen, harmlosen Wellen hin- und herschaukeln, während wir vom weiten Ozean träumen. Wir vergessen, dass die Angebetete ja auch Ja sagen könnte (die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig), dass sie einem vielleicht sogar um den Hals fällt und „Endlich!“ haucht. Wir vergessen, dass die alte Freundin vielleicht seit Jahren auf ein Zeichen von uns wartet. Oder dass wir in Norwegen unserer grossen Liebe begegnen könnten. Aber um dies herauszufinden, gibt es nur einen Weg: Die „Was wäre, wenn …“-Stimme mit dem einen Quäntchen Mut, das den Unterschied macht, zum Schweigen zu bringen. Und dann: Leben, ich vertraue auf dich. Oder wie die Lyrikerin Hilde Domin es ausdrückte:
„Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug.“
Ich jedenfalls werde mir ein einsames Häuschen suchen und dort ganz alleine hinfahren. Nicht in Kanada, aber vielleicht am Neuenburger See oder im Emmental. Ist doch schon mal ein Anfang, oder?
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