Vom Novemberschreiben
Ich wollte es schon immer. Mitmachen beim Novemberschreiben. Seit ich vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal von dieser Idee gehört hatte, 1999, um genau zu sein. Eine Heraus-forderung, wie für mich gemacht: ein klares Ziel – die Erstversion eines Romans mit 50 000 Wörtern – eine zeitliche Begrenzung – dreissig Tage – und Mitstreiter – beim ersten Durchgang ganze einundzwanzig – wenn auch anonyme. Der Funke war gesprungen, meine innere Flamme brannte. Wie absolut wunderbar musste es sein, einen ganzen Monat lang in ein solches Projekt einzutauchen, sich darin zu verlieren, eine Ausrede für alle sozialen Erwartungen und Haushaltspflichten zu haben und endlich, endlich diesen ersten Entwurf für einen Roman zu schreiben. Meinen Roman. Ich wollte mitmachen. Unbedingt.
Im ersten Jahr machte ich nicht mit, weil die Idee des NaNoWriMo, des National Novel Writing Month, noch nicht in deutschsprachige Gefilde vorgedrungen war. Und auf englisch zu schreiben, das war mir dann doch zu anstrengend. Im zweiten Jahr war ich noch Vollzeitangestellte. Da geht so was ja nicht. Ich meine, man stelle sich vor: 50 000 Wörter, geteilt durch dreissig Tage, das sind 1666,6 Wörter pro Tag. Eintausendsechshundertsechs-undsechzig Komma sechs. Jeden Tag. Und wenn man mal einen Tag nicht kann, sind es am nächsten 3333,2. Und dann November. Die Zeit der vielen Anlässe, Apéros und Einla-dungen. Nehmen wir mal an, am Dienstag ist der Weihnachtsapéro der Finanzabteilung – einen Tag nicht geschrieben – und am Mittwoch das Jahresabschlussessen des Teams – zwei Tage nicht geschrieben. Das wären dann 4999,8 Wörter am dritten Tag, an dem man vielleicht Kopfweh oder Bauchkrämpfe hat. Dann wären es schon 6666,4 … Aus dem Begeisterungsfeuer wurde ganz schnell eine Sparflamme, die nur noch harmlos vor sich hinblubberte. Ich liess sie blubbern und den November verstreichen. Der nächste käme ja bestimmt.
Tat er auch, aber da hatte ich einfach keine Idee für einen Roman. Jedenfalls keine, die den Aufwand lohnen würde. Ich meine, wenn man täglich 1666,6 Wörter schreiben muss, sollte die Idee schon Hand und Fuss haben. Da kann man doch nicht einfach so ins Blaue hinaus schreiben, oder? Da braucht es einen Plot, der etwas hergibt, überzeugende Figuren, die nötige Prise Spannung … Ich hatte nichts davon. (Damals glaubte ich noch fest daran, dass man erst dann mit einem Roman beginnen sollte, wenn all das schon steht.)
Dann reduzierte ich mein Arbeitspensum, aber da ich nun als Redaktorin und Kommunika-tionsfachfrau arbeitete, schlug ich mich beruflich schon den ganzen Tag mit Texten herum. Wollte ich da abends wirklich nochmals am Computer sitzen, um Worte ringen und mir mit Formulierungen, Floskeln und abgegriffenen Adjektiven auf dem Schlachtfeld Nahkämpfe liefern? Ich wusste ja damals noch nicht, dass Erstentwürfe so richtig schlecht geschrieben sein dürfen – Hauptsache, sie werden überhaupt geschrieben!
Und so ging es Jahr für Jahr. Der November zog mit seiner nebelverhangenen Geschäf-tigkeit, den Weihnachtsdekorationen und ersten Schneefällen unbeirrt an mir vorüber, ohne dass ich auch nur einen einzigen Versuch gemacht hätte, am NaNoWriMo mitzumachen. Die Teilnehmerzahl war mittlerweile in die Tausende gestiegen – sicherlich allesamt Frauen mit reichen Männern, Studenten oder Berufstätige, die ihren Sabbatical in den November gelegt hatten.
Heute, viele Erfahrungen, Ernüchterungen, Erfolgserlebnisse, Glücksgefühle und mittel-mässig erfolgreiche Ich-schreibe-jetzt-regelmässig-Versuche später, steht er wieder vor mir, der November, und hält mir mein nicht eingelöstes Versprechen unter die Nase. Ich schnüffle daran, ziehe die Luft tief ein wie den Duft frischen Kaffees. Nein, ich werde auch diesen November keine Zeit haben, täglich 1666,6 Wörter zu schreiben. Aber das macht nichts. Denn das muss ich gar nicht. Ich kann mir meinen eigenen Writing Month zusam-menzimmern. Die Anzahl Wörter reduzieren. Die Tage, an denen ich schreibe, von sieben auf vier pro Woche runterschrauben. Ich muss nicht mal einen Roman schreiben. Ich muss einfach schreiben. Diesen Blogbeitrag zum Beispiel. Endlich wieder eine Lese-Empfehlung. Schreibübungen, mit denen ich meine Kursteilnehmer beglücke. Unzusammenhängende Szenen aus Bruchstücken meiner Erinnerungen oder aus dem, was ich täglich erlebe. Beim Einkaufen, beim Plaudern mit der Nachbarin, beim November-beschäftigt-Sein. Und dann, Ende Monat, kann ich stolz auf mich sein. Weil ich es geschafft habe. Ich habe mir etwas vorgenommen und es durchgezogen. Etwas, das mich zwar heraus-, aber nicht überfordert hat. Meinen massgeschneiderten Schreibmonat. Und wer weiss, vielleicht finden sich ja am 1. Dezember in all den November-Texten Szenen, Ideen und Figuren, die es in meinen Roman schaffen. Meinen Roman, mit dem ich zum Beispiel am 1. November 2016 anfangen könnte.
PS: Dieser Text hat übrigens 716 Wörter, rechnet man das PS mit, sind es 731.
PPS: Letztes Jahr nahmen 175 002 Menschen am National Novel Writing Month teil – 40 325 haben durchgehalten und das Ziel erreicht. (Jetzt sind es 757 Wörter.)
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