Vom Rechthaben
Kürzlich musste ich eine wichtige Entscheidung treffen. Und wie das manchmal so ist mit Entscheidungen: Nicht alle Beteiligten sind darüber glücklich. In diesem Fall war es eine bestimmte Person ganz und gar nicht, und das bekam ich durch Beschuldigungen und Vorwürfe sehr schnell und sehr deutlich zu spüren. Leider nahm es diese Person auch mit der Wahrheit nicht so genau, was bei meinem Gerechtigkeitssinn Alarm auslöste. Das Ganze hörte sich – mit einem vollkommen hypothetischen Thema verfremdet – in etwa so an:
Sie: „Ich kann einfach nicht verstehen, warum du dir deine Haare schwarz gefärbt hast. Das geht mir echt auf den Geist!“
Ich: „Ich habe keine schwarzen Haare – meine sind rot.“
Sie: „Was ist das denn plötzlich für ein Ton? Ich weiss, dass du dir die Haare letztes Jahr in Honolulu schwarz hast färben lassen.“
Ich: „Ich war gar nie in Honolulu, und ich habe keine schwarzen, sondern rote Haare.“
Sie: „Ich habe ja schon immer gesagt, dass schwarze Farbe die Haare kaputt macht. Du solltest mal schauen, was ich täglich alles zu sehen bekomme! Seit Jahren setze ich mich für korrektes Haarefärben ein. Und was habe ich davon? Ich werde nur blöd angemacht!!!“
Ich: „Nun, für deinen Einsatz bin ich nicht verantwortlich.“
Sie: „Jetzt bin ich aber echt enttäuscht von dir – ein wenig Verständnis hätte ich schon erwartet!!! Schliesslich habe ich einiges auf mich genommen, damit du deine Haare schwarz färben konntest!!! Aber das scheinst du ja plötzlich vergessen zu haben!!!“
Und so weiter und so fort … Jedes neue Mail war mit neuen Behauptungen und Anschuldigungen (und unzähligen Ausrufezeichen) prall gefüllt. Und da meine Haare nun einmal rot und nicht schwarz sind – und ich auch nicht in Honolulu war – habe ich immer und immer wieder geantwortet. Mittlerweile waren die Mails auf eine beachtliche Länge angewachsen und immer verstrickter und unwirklicher geworden. Ich verlor Stunden und eine Unmenge Energie mit dem Versuch, in einem möglichst sachlichen Ton Klarheit (und Wahrheit) in diese Verstrickungen und Behauptungen zu bringen. Ich war schon so weit, dass ich jedes mal stöhnte, wenn ich meine Mailbox öffnete und ein neues „Schwarze Haare“-Mail darin entdeckte. Wie um alles in der Welt war ich da bloss hinein geraten?
Nach zwei Wochen war ich fix und fertig. Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Schon beim Aufwachen kreisten meine Gedanken um die Behauptungen des letzten Mails und meine Antwort darauf. In Gedanken debattierte ich mit dieser Frau, während ich beim Einkaufen war, beim Autofahren und bei allen anderen Aufgaben, bei denen ich mich hätte konzentrieren müssen. Ich hatte zugelassen, dass die ganze Behaupterei sich wie ein schleichendes Gift in meinem Leben breitgemacht und meine grundlegend positive Lebenseinstellung untergraben hatte. Ich fühlte mich elend, und ich wollte so schnell wie möglich da raus.
Meine Freundin Sonja (die in Wirklichkeit anders heisst) hatte in den vergangenen Tagen einiges von diesem Debakel mitbekommen, und nun rief ich sie an. Nachdem sie mir ein wenig zugehört hatte, meinte Sonja, dass meine Widersacherin aus ihrer Sicht wohl genauso recht hätte wie ich. Für sie SIND meine Haare schwarz, also kann sie mir unmöglich zustimmen, dass sie rot sind. Genauso wenig wie ich akzeptieren kann, dass sie schwarz sein sollen. Bingo – das war der erste Schlüssel! Es gibt verschiedene Wahrheiten, und meine ist nicht notwendigerweise die einer anderen Person. Meine Gegenspielerin und ich hatten, aus der jeweiligen Sicht, beide recht. Vielleicht ist die Frau ja einfach farbenblind …
Der zweite Schlüssel war, dass ich reagiert hatte. Bereits bei der allerersten Antwort hatte ich die Abzweigung verpasst und bin langsam und unaufhaltsam immer tiefer in den Schlamassel gerutscht, denn mit jeder noch deftigeren Anschuldigung wurde es immer schwieriger, mich aus diesem sinnlosen Machtkampf zu verabschieden. Getarnt als „Gerechtigkeitssinn“ hatte mich mein Ego ins Dickicht der Rechthaberei gelockt, und ich hatte mich hoffnungslos darin verheddert. Denn dass mir absolut keine Konsequenzen daraus erwachsen, wenn irgend jemand glaubt, ich hätte schwarze Haare – daran habe ich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gedacht.
Nach meinem Telefongespräch mit Sonja ging es mir schon viel, viel besser. Gute Freunde sind eben unbezahlbar. Doch noch immer fehlte der letzte Schlüssel, um die Lektion ganz zu verstehen. In einer Gesprächsrunde zwei Tage später erwähnte jemand, dass man, um sein Leben zu verändern, zuerst seine Haltung ändern müsse. Oftmals versuchen wir den umgekehrten Weg: zuerst das Leben zu verändern, und dann unsere Haltung. Nur leider ist das erstens unglaublich anstrengend und frustrierend, und zweitens funktioniert es selten bis nie. Bei mir klickte es: Bei der ganzen sinnlosen Debatte hatte ich nur vordergründig versucht, die „Wahrheit“ durchzusetzen. Was ich tatsächlich angestrebt hatte war, die Meinung einer anderen Person zu ändern. Und damit letztlich sie.
Nun konnte ich auch ihre heftigen Reaktionen nachvollziehen. Denn wenn jemand versucht, MIR seine Meinung (oder seine „Wahrheit“) aufzudrängen, werde ich wie meine Katze: Ich mache einen Buckel, stelle die Nackenhaare und fahre die Krallen aus.
Endlich konnte ich aufatmen und die ganze Angelegenheit als wertvolle Lektion abspeichern. Ich muss nicht Recht haben. Ich kann mich frei entscheiden, ob ich auf Anschuldigungen reagiere oder nicht. Und mein Gegenüber hat ein Recht auf seine eigene Wahrheit. So gibt es nun also in meinem Universum mindestens eine Person, für die ich schwarze Haare habe. Wo liegt das Problem? Und für alle künftigen „Schwarze-Haare“-Mails gibt es auf meinem Laptop einen wunderbaren Knopf, und der heisst „Delete“.
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