Von der Inspiration
Ich fahre durch die Hügel des Bieler Seelands, ein Frühherbstmorgen. Die Nebelschwaden liegen im Kampf mit den Sonnenstrahlen, versuchen ihre Stellung zu halten, doch es ist klar, dass sie früher oder später weichen müssen. Ich werde bald die Autobahn erreichen, die eintönige, aber noch geniesse ich die kurvige Strecke. Ich kenne sie, fahre sie in letzter Zeit öfter und habe Spass daran bekommen, meine alte Opel-Corsa-Dame an ihre Jugend zu erinnern, als sie die Kurven noch schnitt, in der Biegung bereits flott wieder Gas gab und austestete, wieviel Geschwindigkeit bis zur nächsten Kurve erträglich war. Ich glaube, sie mag es.
Gerade habe ich sie von der Gegenfahrbahn wieder auf die richtige Strassenseite zurück gezogen, da passiert es. Eine Zeile aus einem Song im Radio, und ich bin elektrisiert. „I see fire, inside the mountain …“ Es sind Sätze wie dieser, die mich augenblicklich in eine andere Welt katapultieren. Eine Welt voller Geschichten und Bilder. Ich sehe sie vor mir, sehe das Feuer in den Bergen, etwas hat sich in Bewegung gesetzt, eine Tür hat sich geöffnet, und ich weiss, dass sich mir die besten, schönsten, tiefsten und bewegendsten Geschichten darbieten. Sie liegen vor mir und ich kann auswählen, wie aus der Auslage in einer Konditorei.
Immer wieder springen mich solche Liederzeilen an. „And she pours herself another cup of coffee“ ist auch so eine. Da sehe ich diese Frau in der Küche sitzen, der Mann ist weg zur Arbeit, sie ist nicht mehr die jüngste und fragt sich, ob das das Leben ist, das sie sich gewünscht hat. Was heisst hier „Ich sehe sie in der Küche sitzen“? Ich SITZE mit ihr in der Küche! Und ich kann alles so genau spüren, könnte alles so genau aufschreiben. Oder „Don’t try to find me.“ Hm … Warum nicht? Was ist geschehen, bevor jemand so etwas sagt? Könnte ICH jemals so etwas sagen?
Ich bin weg. Weg vom Alltag, weg vom Morgennebel, weg von der Strasse. Ich bin im Schriftsteller-Modus, verbunden mit dem Fluss der Inspiration, die Muse hat mich soeben mitten auf die Stirn geküsst. Und ich weiss, dass das eine geniale Geschichte werden wird. Ich weiss es einfach, und ich bin glücklich. Eigentlich müsste ich jetzt anhalten, meinen Laptop in Gang setzen oder mein Notizbuch hervorkramen und schreiben. Aber das tue ich nicht. Ich biege auf die Autobahn ein, lasse Bern rechts liegen und fahre Richtung Basel. Immer noch Zeit, das später aufzuschreiben. Später. Das Todesurteil jeder Eingebung, das Ende jeden Einfalls. Als ich endlich zuhause ankomme, hat die Eintönigkeit der Autobahn meine Ideen verwischt, und der innere Kritiker hat während der ganzen Fahrt neben mir gesessen und gute Arbeit geleistet. Das Fenster hat sich geschlossen, die Inspiration hat sich jemand anderem zugewendet. Jemandem, der bereit ist, in den Hügeln anzuhalten, sich auf das Feuer in den Bergen einzulassen, sich auf den Weg zu machen um herauszufinden, wer da nicht gefunden werden will und warum.
Mit einer leisen Wehmut lasse ich sie gehen, die ungeschriebenen Geschichten und wende mich meinem Alltag zu. Selber schuld. Aber wer weiss, vielleicht werde ich es eines Tages schaffen, mitten in den Hügeln anzuhalten und dieser Jemand zu sein, bei dem die Inspiration lange genug verweilt. Und vielleicht wird irgendwo, in einem anderen Hügelland eine andere Frau in einem anderen Auto von der Inspiration geküsst, weil sie zum Beispiel einen Satz hört wie „It started on a winding road, somewhere between the hills“…
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