Von Wasser und Wein
Man sollte ja bekanntlich nicht Wasser predigen und Wein trinken. Will heissen, man sollte selber das tun, was man predigt. Oder auf gut Neudeutsch: «Walk the talk». Konkret sollte ich also, wie ich es den Teilnehmern (und damit sind auch die weiblichen Varianten davon gemeint) meiner Kurse und Seminare immer wieder predige, täglich schreiben. Wenn auch umständehalber zum Beispiel nur eine halbe Stunde. Die Devise heisst dranbleiben, den Fluss am Laufen halten, für die Ideen, die da herumschwirren, offen bleiben. Und dies funktioniert nun mal am besten durch tägliches Schreiben. So weit, so gut.
Und doch: Wenn ich in meinen Schreibgruppen immer wieder höre «Ich bin nicht zum Schreiben gekommen» oder «Es war so viel los», «Ich hatte keine Zeit», dann nicke ich. Ich weiss, wie schnell die guten Vorsätze dem Alltag zum Opfer fallen. Ich habe es selber gefühlte tausend Mal erlebt. Und ich bin auch heute noch nicht davor gefeit. Auch in jüngster Vergangenheit nicht.
Es geschieht schleichend. Man lässt mal einen Tag aus, das schadet doch sicher nichts, oder? Am nächsten platzt dann zur Schreibzeit die Nachbarin herein. Oder die Katze hat ein Problem und braucht ganz dringend meine Aufmerksamkeit. Am dritten Tag streikt der Drucker, der Briefträger bringt das längst ersehnte Paket, der Liebste macht eine sensationelle Entdeckung, deren Demonstration keine Sekunde Aufschub duldet. Die geplante Schreibzeit ist um, bevor sie begonnen hat. Das Hinterhältige daran: Mit jedem Tag wird es schwieriger, wieder einzusteigen. Es ist, als seien die Idee, die Geschichte selbst oder die Figuren beleidigt. Sie schmollen. «Ich habe jetzt auch keine Zeit», patzen sie mich an und blicken demonstrativ in die andere Richtung. Doch damit nicht genug: Der innere Kritiker, dieser Fiesling, wittert seine Chance. «Meinst es mit dem Schreiben wohl doch nicht so ernst», flüstert er mir ins Ohr und freut sich teuflisch, dass ich ihm zuhöre. Die Spirale dreht sich, zieht mich nach unten, die Geschichte rückt in die Ferne, verflüchtigt sich, und das schlechte Gewissen baut die letzte grosse Barriere auf. Ich bin – rausgefallen.
Es wurden diesmal ganze zwei Monate, in denen ich mich vielleicht zwei, drei Mal mit meiner Geschichte beschäftigt habe. Dass die Geschichte sich zurückzieht, wenn man nicht schreibt, sich bestenfalls dahinschleppt und sich schlimmstenfalls ganz verabschiedet, ist unerträglich genug. Doch viel schlimmer ist der Zustand, in den ich abrutsche, wenn ich nicht schreibe. Ich werde unruhig. Gestresst. Unzufrieden. Und sicherlich auch ein wenig ungeniessbar. Ich hadere mit dem Leben, mit meiner Situation, empfinde das Schicksal als ungerecht und lande schliesslich bei dem Gedanken, dass das ja doch alles nichts bringt. Ich könnte genauso gut mit dem Schreiben aufhören. Talsohle erreicht.
Aber da geschieht das kleine Wunder. Mein Überlebensinstinkt wird wie von Geisterhand angeworfen. Leben ohne Schreiben? Niemals. Auch wenn ich keinen Bestseller schreiben sollte, nicht berühmt werde, bei Wettbewerben leer ausgehe: Ich will schreiben. Geschichten erzählen. Figuren auf ihrer Reise begleiten. Dabei sein, wenn sie ihre Ängste überwinden, ihrer Bestimmung folgen, auf ihre innere Stimme hören, über sich selbst hinauswachsen. Und ich will immer wieder erleben, wie das beim Schreiben plötzlich wie von alleine zu geschehen scheint und mich die Geschichte vereinnahmt. Denn das macht glücklich.
Und so rücken die Prioritäten langsam wieder ins Lot. Der Entscheid, beim nächsten Schreibtreffen die Übungen, die ich den Teilnehmern zumute, mal wieder mitzuschreiben (statt mein ach so dringendes Businesszeugs zu erledigen), entsteht ganz von alleine. Schon bei der ersten Schreibübung kündigt sich mir eine Geschichte an. Eine, die ich mir so nie «ausgedacht» hätte. Ich schreibe weiter, am nächsten Tag und am übernächsten. Die Figuren zeigen sich mir. Ich erfahre ihre Lebensgeschichten. Muss der Begegnung nur zuschauen und mitschreiben. Eine kleine Welt tut sich mir auf. Weil ich hinschaue. Zuhöre. Weil ich sie ernst nehme. Weil ich schreibe. Weil ich wieder Wasser trinke (symbolisch gesehen …).
Kurz darauf erreicht mich ein SOS-Ruf einer Teilnehmerin der Schreibgruppe, die das letzte Mal nicht dabei sein konnte. «Ich brauche euch!», schreibt sie. «Ich habe seit dem letzten Mal kein einziges Wort geschrieben!» Ihr Hilferuf ist ihre Art, aus der Talsohle wieder hochzukommen. Ihre Geisterhand, die das Blatt wendet. Und der Termin für den nächsten Schreibtag hat auf meiner To-do-Liste plötzlich erste Priorität.
Nach dem Schreiben, wohlverstanden.
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